Neuhausen:Insel im Meer der Trauer

Den Kummer spüren, die Wut rauslassen: "Lacrima" betreut Kinder, die einen nahen Angehörigen verloren haben. Das Zentrum sucht neue Räume - dabei gibt es eine Schmalspur-Variante und eine große Lösung

Von Ellen Draxel, Neuhausen

Bis Ende Juli bleibt noch Zeit. Dann muss Lacrima, das Münchner Zentrum für trauernde Kinder und Jugendliche unter dem Dach der Johanniter, sein Stammdomizil an der Neuhauser Birkerstraße verlassen. Das Gebäude wird umgebaut und neu vermietet. Für Tobias Rilling, den Gründer von Lacrima, ein Grund, die Raumstruktur der Organisation als Ganzes zu überdenken. "Unser Nahziel ist, Räume für die eine Gruppe zu finden, die sich derzeit noch in Neuhausen trifft", sagt der evangelische Diakon. Aber das sei nur die "Schmalspur"-Version. "Eigentlich wollen wir die große Lösung". Eine Immobilie, in der alle zehn Kinder- und Jugendgruppen des Zentrums, die jetzt noch stadtweit verstreut sind, unterkommen - plus Büro, kleine Küche und Lagerräume.

Lacrima ist lateinisch und heißt Träne. Als Ort, an dem die Kinder weinen können, an dem sie Emotionen zulassen dürfen, ihren Kummer nicht zurückzuhalten brauchen aus Angst, andere damit zu belasten - als solch ein Ort funktioniert das Zentrum seit nunmehr 13 Jahren. Alle zwei Wochen treffen sich Sechs- bis Zwölfjährige in kleinen Gruppen, betreut von ehrenamtlichen Trauerbegleitern, einen Nachmittag lang. Jedes der Kinder hat einen nahen Angehörigen verloren. Jedes reagiert anders auf den Verlust, aber eines ist bei allen gleich: "Kinder", sagt Rilling, "versinken nicht in einem Trauermeer wie Erwachsene. Sie springen eher von Pfütze zu Pfütze". In einem Moment können sie traurig sein - um im nächsten fröhlich herumzutollen.

Neuhausen: Hilfsmittel zum Trauern, das können Kerzen sein - aber manchmal auch ein Boxsack.

Hilfsmittel zum Trauern, das können Kerzen sein - aber manchmal auch ein Boxsack.

(Foto: Sascha Stolzenburg/oh)

Ein zentrales Haus, ein "Identifikationsort", wie Rilling ihn sich vorstellt, braucht deshalb nicht nur Gruppenräume für Rituale und Gespräche. Es braucht einen Kreativraum, wo Weihnachtsgestecke fürs Grab gebunden werden können. Wo Bilder entstehen, die Erlebnisse verarbeiten helfen. Es braucht einen sogenannten Snoezelen-Raum zum Entspannen und Lesen, einen Rückzugsort, um zu sich selbst zu finden. Vor allem aber braucht es einen Raum zum Toben. Mit Matten auf dem Fußboden, bruchsicheren Scheiben und einem Box-Sack. Fast ohnmächtige Wut zu spüren, ist eine Art, wie Kinder trauern - beispielsweise, wenn ein Elternteil Suizid begangen hat. "Ich habe noch kein Kind erlebt, das sich nicht eine Mitschuld am Tod eines nahen Angehörigen gegeben hätte", sagt der Diakon. So unbegründet das schlechte Gewissen auch sei - es mache die Kinder "total wütend". Diese Aggression müsse raus. Erst dann könnten die Kinder positive Erinnerungen an den Verstorbenen zulassen.

Rilling erinnert sich an zwei Brüder, die wie wild auf einen Box-Sack eindroschen. Auf dem Sack klebte das Bild ihres Vaters - der Verstorbene hatte seine Söhne geschlagen. Als die Jungen ihren aufgestauten Frust endlich los waren, entblätterte sich die Trauer. Neue Sichtweisen öffneten sich. Das mathematische Verständnis, erkannte der ältere Sohn, habe ich von Papa. Und mir, ergänzte der Jüngere, hat er das Radfahren beigebracht. Zwei bis drei Jahre dauert es, manchmal auch länger, bis die Kinder das Trauma des Verlustes verarbeitet haben.

Neuhausen: Alles unter einem Dach - Räume für zehn Gruppen, Lagerräume, Büro. Das wäre Diakon Tobias Rilling, dem Leiter von Lacrima, am liebsten.

Alles unter einem Dach - Räume für zehn Gruppen, Lagerräume, Büro. Das wäre Diakon Tobias Rilling, dem Leiter von Lacrima, am liebsten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Derzeit aber ist Lacrima noch überall zu Gast, in Kirchengemeinden, im Alten- und Service-Zentrum, bei der Evangelischen Jugend. "Wir behelfen uns momentan mit Kisten, in denen Grundutensilien wie Tücher, Kerzen, Stifte und Papier verstaut sind. Stehenlassen können wir in den Gast-Räumen nichts." Einen Indoor-Sandkasten, um Beerdigungen nachzuspielen oder Namen zu formen, gibt es nicht überall. Ebenso wenig wie ein Puppenhaus. Dabei lassen sich damit wunderbar Szenen, die Wunden in der kindlichen Seele hinterlassen haben, nachstellen. Die Kinder spielen Familie - und plötzlich ist die Mama weg. Sie fällt einfach aus dem Haus. Momente, in denen die Trauer aufbricht.

Die Immobilie, die Rilling sucht, kann ein städtisches Objekt sein, ein privates oder gewerbliches. "250 Quadratmeter wären super." Die Bezirksausschüsse als detailreiche Kenner ihrer Viertel fragt er gerade stadtweit an. Ein "Win-Win-Geschäft" sieht er aber auch in einer Partnerschaft mit Betrieben. Das Zentrum finanziert sich ausschließlich durch Spenden, für die Kinder, Jugendlichen und Eltern ist das Angebot kostenlos. 48 000 Euro, sollte sich etwas zur Miete finden, ist die maximale Summe, die Lacrima jährlich aufbringen kann.

Mit dem Auszug aus der Birkerstraße verliert das Zentrum auch die Räume für die Schulung von Ehrenamtlichen und den Schnupperkurs. Zumindest für die Gruppe aus Neuhausen aber dürfte sich bis zum Sommer ein Ersatzstandort finden. Da ist Tobias Rilling optimistisch.

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