Neue Straßenzeitung:Konkurrenz für Biss

Neue Straßenzeitung: Die Magazin-Macher (von unten nach oben): Herausgeber Felix Kreuzer, Chefredakteure Jasmin und Tobias Irl, Vertriebschef Bernhard Gutewort.

Die Magazin-Macher (von unten nach oben): Herausgeber Felix Kreuzer, Chefredakteure Jasmin und Tobias Irl, Vertriebschef Bernhard Gutewort.

(Foto: Catherina Hess)

Mit 25.000 Exemplaren startet die neue Straßenzeitung "Charity München", die ihre Leser zum Helfen animieren will. Nicht überall stößt das neue Projekt auf Begeisterung.

Von Thomas Schmidt

Es gebe da eine alte Frau, beginnt Tobias Irl zu erzählen. Sie strickt Mützen und Schals, das ganze Jahr über. Sie strickt und strickt und strickt. Um andere zu wärmen, und vielleicht auch das eigene Herz. Sie strickt so viel, dass ihr die Wolle irgendwann ausgeht. Reich ist sie nicht, die alte Frau. Doch die Menschen schicken ihr Wollreste mit der Post, und so strickt sie weiter. All ihre bunten Mützen und die kuscheligen Schals habe sie dann an Einrichtungen für Obdachlose spenden wollen, berichtet Irl. "Aber keine wollte sie haben. Alle wollten nur Geld." Tobias Irl verstand das nicht. Er versteht es bis heute nicht.

Fünf Winter lang betrieb der heute 39 Jahre alte Tobias Irl gemeinsam mit seiner Frau Jasmin den Kältebus in München. Er nahm die Mützen und die Schals, dazu noch Schlafsäcke, Decken und heißen Tee, und verteilte alles an die, die frieren müssen, weil sie draußen schlafen, Platte machen. Endlich konnte die alte Frau das tun, was sie immer tun wollte: helfen.

"Ich habe immer wieder Menschen kennengelernt", sagt Tobias Irl, "die helfen wollten, aber nicht wussten wie. Die spenden wollten, aber nicht wussten wohin." Irgendwann hatte er das satt. Gemeinsam mit seiner Frau und zwei Freunden hat der Kfz-Händler deswegen nun eine neue Straßenzeitung gegründet: die Charity München.

Der Verkäufer bekommt die Hälfte

Die erste Ausgabe wird von diesem Freitag an verkauft, 25 000 Exemplare sind gedruckt. Wie bei einer Straßenzeitung üblich, wird sie von Bedürftigen, von sozial Schwachen und Obdachlosen auf öffentlichen Plätzen angeboten. Irl möchte, dass auch Flüchtlinge das Magazin verkaufen, rechtlich sei das aber noch nicht geklärt, sagt er. Von den 2,50 Euro, die ein Exemplar kostet, bekomme der Verkäufer die Hälfte. Der Rest fließe in soziale Projekte und decke zumindest einen Teil der Produktionskosten. Viermal im Jahr soll die Charity erscheinen, vielleicht auch sechsmal, wenn es gut läuft.

Selbstverständlich ist das nicht, denn München hat längst eine Straßenzeitung, sogar die älteste in Deutschland. Seit 1993 wird hier die Biss feilgeboten - "Bürger In Sozialen Schwierigkeiten". Die verkaufte Auflage lag zuletzt bei 38 000 Exemplaren. 2,20 Euro kostet ein Heft, auch hier geht die Hälfte an den Verkäufer, von denen die Biss etwa hundert beschäftigt, fast jeder zweite ist fest angestellt. Jährlicher Umsatz: mehr als 2,2 Millionen Euro.

Zwei sind eine zu viel

Das Wichtigste an der Biss ist nicht das Heft, das Wichtigste sind die Menschen, die es verkaufen. Die Zeitung bringt Obdachlose unter ein Dach. Sie hilft Trinkern zur Trockenheit und Schuldnern zu Flüssigem. "Biss-Leser merken, dass die Verkäufer mit der Zeit immer besser beieinander sind", sagt Geschäftsführerin Karin Lohr. Darum geht es. Vor allem anderen.

Begeistert klingt Lohr nicht gerade, als sie von dem neuen Projekt Charity München erfährt. Die Biss sei Mitglied im Internationalen Netzwerk der Straßenzeitungen, genauso wie Hinz & Kunzt in Hamburg, der Strassenfeger in Berlin oder Trott-War in Stuttgart. "Der Kodex des Netzwerks sieht vor, dass es nur eine Straßenzeitung pro Stadt gibt", sagt Lohr. Zwei sind demnach eine zu viel.

Der Ex-OB schreibt eine Kolumne

Tobias Irl sieht das anders. Erstens, betont er, werde seine Charity der Biss keine gezielte Konkurrenz machen. Irl will sein Magazin nur dort unters Volk bringen, wo keine Biss-Verkäufer sind. Plätze dafür gebe es genug, sagt er. Zweitens: Während es der Biss vor allem darum geht, ihren Verkäufern wieder auf die Beine zu helfen, will Irl in erster Linie Leser erreichen, die selbst helfen möchten. "Aufklärungsarbeit, dafür ist die Zeitung da", sagt er. Das Magazin soll "eine Art Gütesiegel für soziale Projekte" werden. Sechzig-plus, das sei die Zielgruppe. "Menschen, die spenden wollen, aber nicht wissen wohin." Wie die alte Frau mit ihren Mützen.

Aber gibt es das wirklich - Heerscharen verirrter Spender, die nicht wissen wohin mit ihrem Geld, ihrer Zeit? "So gut, wie es uns geht, ist es pervers, wie wenig wir helfen und wie viel wir jammern", sagt Irl. "Wir orientieren uns an den Geissens und bemitleiden uns dabei." Manchmal ertappe auch er sich beim Selbstmitleid, dann denke er an die Menschen, denen er helfen durfte, "und dann erkenne ich wieder, wie gut es mir geht". Die Charity soll helfen zu helfen. Hinzu kommen Veranstaltungshinweise, medizinische Ratgeber - und die Kolumne von "Häuptling Rote Feder".

Hinter dem Pseudonym steckt der ehemalige Oberbürgermeister Christian Ude, der die Charity unterstützt. Den Namen der Zeitschrift, so schreibt er in seinem ersten Text der ersten Ausgabe, den "mag ich eigentlich gar nicht". Charity, das klinge doch arg nach "Charity-Lady", nach "Fest-Dinner gegen den Welthunger". Aber das sei ganz und gar nicht gemeint. Sondern: "soziales Engagement". Tobias Irl nimmt die Kritik gelassen. "Ich verstehe das ja", sagt er, "aber ,Wohltätigkeit München' hört sich als Name halt blöd an."

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