Nach S-Bahn-Gewalt in München:Die Angst der Helfer

Am S-Bahnhof Solln beobachteten 15 Passanten die tödliche Prügel-Attacke, doch niemand griff ein. Den Zeugen könnten nun strafrechtliche Konsequenzen drohen.

A. Krug und M. Maier-Albang

Man soll sich Hilfe holen, andere mobilisieren, soll "eine Öffentlichkeit herstellen" - das empfehlen Kriminalpsychologen jenen, die in Bedrängnis geraten. Doch was ist, wenn der Versuch, sich Hilfe zu holen, nicht glückt? Wenn Menschen nicht helfen wollen - wie es bei dem Überfall auf Dominik Brunner möglicherweise geschehen ist.

Nach S-Bahn-Gewalt in München: Trauer am Bahnsteig in Solln: Hätten andere Passagiere eingreifen sollen?

Trauer am Bahnsteig in Solln: Hätten andere Passagiere eingreifen sollen?

(Foto: Foto: ddp)

Anna Braun (Name von der Redaktion geändert) wollte in die Berge fahren am Samstag. Die 19-Jährige lässt sich an den Sollner Bahnhof bringen und kommt gegen 16.30 Uhr an, zwanzig Minuten, bevor der Zug der Bayerischen Oberlandbahn einfahren soll.

Den Angriff auf Dominik Brunner sieht sie nicht, doch sie ist am Bahnsteig, als die Sanitäter eintreffen und die Suche nach den Tätern Markus Sch. und Sebastian L. beginnt. Sie stellt sich als Zeugin zur Verfügung - und während sie darauf wartet, ihre Aussage zu machen, spricht sie mit den jungen Leuten, die neben ihr stehen: Es sind die vier Kinder aus dem Zug, denen Dominik Brunner beigestanden war. Völlig aufgelöst seien die Vier gewesen, schildert Anna Braun ihre Begegnung.

Und sie hätten immer wieder gesagt: "Es hat uns keiner geholfen." Die Kinder erzählen ihr, dass sie nicht nur um Hilfe gerufen, sondern gezielt Passanten angesprochen hätten mit der Bitte, einzugreifen. Auch dann noch, als der 50-Jährige schon am Boden lag. Doch mehrere Personen seien weitergegangen, die Kinder, sagt Braun, "fühlten sich völlig hilflos".

Der Leiter der Mordkommission, Markus Kraus, bestätigt am Dienstag auf SZ-Anfrage, dass die Kinder am Bahnsteig Passanten, die mit ihnen aus dem Zug gestiegen waren, um Hilfe baten. "Aber wir wissen nicht, was diese Menschen tatsächlich mitbekommen haben und inwieweit sie hätten eingreifen können." Mehrere Passanten wählten den Notruf.

Doch in die Prügelei griff niemand ein.

Per Gesetz muss man helfen

Die Polizei geht momentan davon aus, dass sich zur Tatzeit um 16.10 Uhr rund 15 unbeteiligte Personen auf dem Bahnsteig stadtauswärts, auf dem Brunner niedergeschlagen wurde, befanden. Ob es Schüler waren, Rentner oder Erwachsene, wie weit die Personen entfernt waren und ob ihnen ein Eingreifen "zumutbar" gewesen wäre, sei nicht geklärt, sagt Kraus. Außer den vier Kindern hat die Polizei gerade eine Handvoll Zeugen, die sich bislang gemeldet haben.

Für den ermittelnden Staatsanwalt Laurent Lafleur stellt sich die Frage nach möglichen strafrechtlichen Konsequenzen wegen unterlassener Hilfeleistung von Zeugen zur Zeit nicht. "Derzeit gibt es dafür keine Anhaltspunkte", sagt Lafleur. Die Staatsanwaltschaft sei auch wie in anderen Fällen angehalten, nur eine "rechtliche Bewertung" vorzunehmen. Eine "moralische Bewertung" sei eine ganz andere Sache. Lafleur sprich damit eine Problematik an, die auch dem Gesetzgeber Kopfzerbrechen bereitet.

Nicht umsonst taucht das Wort Zivilcourage in keinem Strafgesetzbuch auf. Grundsätzlich ist nach dem Gesetz jedermann zur Hilfe bei Notlagen verpflichtet. Wer dieser Verpflichtung nicht nachkommt, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Im einschlägigen Paragraphen 323c (StGB) heißt es dazu: "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft."

Doch was ist zumutbar? Hier beginnt die rechtliche Grauzone, denn die Zumutbarkeit eines Eingreifens richtet sich nach verschiedenen Kriterien, etwa nach der körperlichen und geistigen Verfassung des Helfers. Grundsätzlich gilt hier, dass eine erhebliche Gefährdung der eigenen Gesundheit nicht in Kauf genommen werden muss. Andererseits ist es unter Umständen mit einem bloßen Handyanruf bei der Polizei auch nicht getan. Es kommt also sehr auf die konkreten Umstände des Falles an, und genau dies macht die juristische Bewertung auch so schwierig und komplex.

Das rechte Maß der Abwehr

Für die Ermittler steht ohnehin die Suche nach dem Täter beziehungsweise der Nachweis der Tat im Vordergrund. Zeugen werden daher in der Regel nur über das Tatgeschehen befragt und nicht über eine eventuelle unterlassene Hilfeleistung. Zumal sie Angaben dazu verweigern könnten, da sie sich nicht selbst belasten müssen.

Daher sind Prozesse wegen unterlassener Hilfleleistung auch äußerst selten. Erfahrenen Ermittler ist dieses Dilemma durchaus bewusst - und sie thematisieren es auch nicht gerne. "Wer würde sich dann noch als Zeuge einer Straftat melden", heißt es intern, wenn er sich gleich Ermittlungen in eigener Sache ausgesetzt sieht.

Nicht weniger komplex ist das Thema der sogenannten Nothilfe. Grundsätzlich gilt auch hier, dass jeder, der einem Opfer zur Hilfe eilt, durch das Gesetz geschützt ist. Geregelt ist das im Notwehr-Paragraphen 32 (StGB). "Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden", heißt es hier, und: "Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig." Das Notwehrrecht ist allerdings nicht grenzenlos, es findet seine Schranken etwa in der Wahl der Mittel. Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs bestimmen Art und Maß der Abwehr, lautet der Grundsatz.

Der Verteidiger ist bei seiner Nothilfe gehalten, nur das Mittel einsetzen, das am wenigsten gefährlich ist. Die Tötung eines Angreifers ist nur als letztes Mittel der Verteidigung denkbar. Wie schwierig die Bewertung solcher Fälle ist, zeigt ein jüngstes Urteil des Münchner Schwurgerichts. Es hatte einen Studenten, der sich mit einem Messer gegen einen aggressiven jugendlichen Schläger wehrte, wegen versuchten Totschlags zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

Die Richter billigten ihm zwar eine Notlage zu, stuften aber den Einsatz des Messer als unzulässig ein. Der Bundesgerichtshof hat dieses Urteil jetzt im Strafmaß aufgehoben und eine geringere Strafe angemahnt. Der Beschluss des BGH stammt von Mitte August, der Tod des mutigen Helfers Dominik Brunner gibt dem Fall nun neue Aktualität.

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