Olympia-Einkaufszentrum:Schüler müssen Schockstarre nach dem Amoklauf überwinden

Nach Schießerei in München

Schülerinnen und Schüler müssen die Geschehnisse am OEZ noch verarbeiten.

(Foto: dpa)
  • Viele Schüler in München sind noch immer schockiert von dem Amoklauf am vergangenen Freitag.
  • An den betroffenen Münchner Schulen arbeiteten Psychologen und Pädagogen gezielt gegen Traumata an.
  • 35 Schulpsychologen des Kriseninterventions- und Bewältigungsteams Bayerischer Schulpsychologen (Kibbs) sind seit Freitag im Einsatz - für Schüler und Lehrer.

Von Anna Günther

Viele Kinder haben immer noch Angst. Dass es nicht vorbei ist, dass zwei weitere Bewaffnete in der Stadt herumlaufen. Dieses Gerücht versetzte am Freitagabend die Stadt in Panik: Drei Täter schießen in München, nicht nur am Olympia-Einkaufszentrum. Seit Freitagnacht ist bekannt, dass nur ein Täter am OEZ um sich schoss, bevor er sich selbst tötete. Rational herrscht also Klarheit. Aber Ängste lassen sich nicht wegargumentieren.

Viele Schüler haben Freunde und Geschwister verloren oder Unbegreifliches gesehen. Neun Menschen erschoss David S., sechs davon waren nicht einmal volljährig. Einige Schüler trauten sich auch Tage nach dem Amoklauf nicht, mit der U-Bahn zu fahren, fühlten sich selbst in der Schule nicht sicher. Einzelne blieben daheim, weil sie Angst hatten oder ihre Eltern.

"Die Verunsicherung bleibt, weil das Gedächtnis im Schock nicht verarbeitet hat, dass es nur ein Täter war", sagt Hans-Joachim Röthlein. Mit 35 Schulpsychologen des Kriseninterventions- und Bewältigungsteams Bayerischer Schulpsychologen (Kibbs) ist der 63-jährige Koordinator für Oberbayern seit Freitag im Einsatz. Sie bereiteten Lehrer auf den ersten Schultag danach vor. Seit Montag versuchen Röthlein und sein Team in mehr als einem Dutzend Münchner Schulen die Jugendlichen zu beruhigen und deren Ängste zu zerstreuen. Alle Schulen bekamen ein Schreiben mit Tipps aus dem Ministerium, Kinder und Jugendliche sollten über den Amoklauf sprechen - wenn sie das wollten.

Dabei sieht Röthlein sogar etwas Positives: David S. schoss nicht in der Schule um sich. In Winnenden, Ansbach oder Erfurt war das anders. Dort dauerte es besonders lange, bis die Jugendlichen sich in ihren Klassen wieder sicher fühlten. Röthlein kümmerte sich mit Kollegen um diese Betroffenen. Seit 27 Jahren ist er Schulpsychologe. Das Kibbs-Team gibt es seit 2002, damit speziell geschulte Psychologen in extremen Krisensituationen Lehrern und Kindern beistehen können.

An den betroffenen Münchner Schulen arbeiteten Psychologen und Pädagogen gezielt gegen Traumata an. Der Montag sei besonders schwierig gewesen, erzählt Röthlein. Schüler weinten, waren verzweifelt, ruhelos und wussten nicht mit Erinnerungen umzugehen. Die Schulpsychologen richteten Gesprächsorte und Rückzugsräume ein, in denen die Buben und Mädchen nachdenken oder aufschreiben konnten, was sie bewegte.

Aber alle mussten sich ihren Ängsten stellen. Damit diese sich nicht festigen und zu physischen Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen und Schlafstörungen werden. Richtiges Verhalten ist gerade am Anfang entscheidend: Die Schulpsychologen korrigierten falsche, angsteinflößende Informationen und versuchten das Sicherheitsgefühl der Jugendlichen wieder herzustellen.

Jüngere Schüler suchten Halt bei Vertrauenspersonen wie ihren Klassenlehrern, die älteren spendeten sich gegenseitig Trost, umarmten sich und suchten die Nähe der Freunde. Besonders, wenn die Eltern selbst trauern. Laut Röthlein aktivieren sich archaische Muster, wenn Leidensgruppen zusammenkommen. Gemeinsam Erlebtes schweißt zusammen, Gemeinschaft steigert das Sicherheitsempfinden. Einzelnen reichte das nicht. Sie fühlten sich erst sicher, wenn die Türen geschlossen und Polizisten präsent waren. "Es geht um das subjektive Sicherheitsgefühl, objektive Kriterien spielen keine Rolle", sagt Röthlein.

Die Psychologen wollen die Kinder zurück ins Leben führen

Manche Schüler brauchten Routine, um klarzukommen, andere gingen mit Freunden spazieren. Bewegung ist für den Traumatherapeuten essenziell. Das zeige auch die Forschung. Der Körper muss sich aus der instinktiven Schockstarre lösen, Extreme wie Wut, Ohnmacht und Schmerz verarbeiten. Entsprechend liefen die vergangenen Schultage ab: Lehrer orientierten sich an den Bedürfnissen der Kinder, ließen sie rumlaufen, machten dann wieder etwas Unterricht oder trauerten mit der ganzen Schule in Gottesdiensten und Schulversammlungen.

Die ersten Rückmeldungen seien positiv, sagt Röthlein, die Pädagogen hätten sich vorbereitet gefühlt. Ähnliches berichteten am Montagabend im Kultusministerium auch die Schulleiter der betroffenen Schulen. "Die meisten Jugendlichen haben sich in der Schule stabilisiert", sagt Röthlein. Mehrere Lehrer hatten ihm berichtet, dass ihre Schützlinge jeden Tag etwas gelöster nach Hause gingen.

Aber noch ist nichts ausgestanden. Bei vielen Betroffenen klingen die traumatische Symptome innerhalb von vier Wochen ab. Für einige Jugendliche könnte es länger dauern. Sie haben Unbegreifliches gesehen. Und wie viele Schüler betroffen sind, weiß niemand. "Das wird uns noch lange beschäftigen", sagt Röthlein. Nach dem Amoklauf im Ansbacher Gymnasium im September 2009 habe es zwei Monate gedauert, bis die Schüler einigermaßen stabilisiert waren. "Wir haben noch im März bei einem Mädchen ein Trauma entdeckt", sagt Röthlein.

Es litt unter massiven Schlafstörungen und die Noten hatten sich drastisch verschlechtert. Die Schülerin führte diese Symptome nicht auf den Amoklauf zurück. Ihre überreizten Nerven lösten Erinnerungen aus, die sich nicht kontrollieren ließen. Traumatisierte haben dann oft das Gefühl, verrückt zu werden, sagt Röthlein. Und wenn die Bilder endlich seltener kommen, seien sie froh über Normalität und stellten keinen Zusammenhang mehr zu Schmerzen oder Schlaflosigkeit her. Umso wichtiger sei es, sofort mit den Betroffenen über ihre Ängste zu sprechen.

In der vergangenen Schulwoche konnten Experten helfen, in den Ferien müssen die Jugendlichen und ihre Eltern selbst zurecht kommen. Es sei aber wichtig, die Kinder zurück ins Leben zu führen, Ausflüge zu machen und schöne Dinge zu erleben, sagt Röthlein. Nur, auch im Urlaub können Ängste wieder hochkommen. Auslöser sind Triggerreize wie Gerüche, Geräusche oder Klänge. Ein harmloses rotes Auto erinnert zum Beispiel an das Blut der Opfer und löst sofort Panik aus. "Das traumatisierte Gedächtnis kann Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht unterscheiden. Betroffene verstehen nicht, woher die Panik kommt", sagt Röthlein.

In diesen Momenten sollten Erwachsene ruhig bleiben und sofort darauf eingehen. Keinesfalls dürften sie Gedanken der Jugendlichen als Schmarrn abtun oder nachbohren. Es sei wichtig, falsche Informationen sofort zu berichtigen und zu fragen, was das Kind in diesem Moment braucht, um sich sicher zu fühlen. Die Betroffenen werden mit der Verarbeitung der Schreckensnacht nicht allein gelassen: Kultusminister Ludwig Spaenle versprach Betreuung, solange die Schulen sie wünschen. In den Ferien sind die Schulpsychologen der Schulämter und auch das Kibbs-Team in Bereitschaft. Besonders schwere Fälle sollten sich aber an Kinder- und Jugendpsychiater wenden.

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