Musical "Rockville" in München:Gefiederter Freund

Das Musical "Rockville" feiert im Deutschen Theater seine Deutschland-Premiere: Eine wilde Mischung aus "Sex, Drugs und Rock'n'Roll".

Michael Zirnstein

Er fahre heute das einzige Taxi hier, sagt der am Bahnhof wartende Fahrer. Das verwundert die beiden aus München eingetroffenen Reisegruppen, denn es ist der große Premierentag des "20. Musicalsommers" im niederösterreichischen Amstetten. Der Reportertross und die Übersetzerin nebst Begleitung vereinbaren, sich das Taxi zu teilen.

Musical "Rockville" in München: Superheld aus dem Jenseits: Rockmusiker Brian Carr (Alex Melcher) rettet als Schutzengel eine Kleinstadt vor dem Bösen.

Superheld aus dem Jenseits: Rockmusiker Brian Carr (Alex Melcher) rettet als Schutzengel eine Kleinstadt vor dem Bösen.

(Foto: Foto: Deutsches Theater)

Man ahnt nicht, dass das gemeinsame Ziel, das Hotel, nur zwei Minuten entfernt ist. Zur Spielstätte, einer Eissporthalle am Ortsende, spaziert man dann in zehn Minuten. Unter den vielen Sponsoren darf dort auch eine örtliche Fleischhauerei für sich werben; die Landesrätin freut sich via Mikrophon "auf eine turbulente Nacht in der Welt des Rackenroll", ehe Intendant Johann Kropfreiter dem Publikum stolz verkündet, es sei erstmals vor der Premiere gelungen, einen Partner zu finden, der die Uraufführung übernehme.

Sein Gruß gelte den Kollegen Carmen Bayer und Werner Steer vom Deutschen Theater in München, die "Rockville - Ein Engel muss kein Heiliger sein" unbesehen für fünf Wochen gebucht haben (von heute an bis 4. Oktober): "Ihr beide seid die ersten Theaterleiter, die unserer Arbeit Vertrauen im Vorfeld geschenkt haben." Sieht ganz nach einem Abenteuer auf dem Lande aus, was das Großstadt-Intendantendoppel auf seiner andauernden Suche nach unverbrauchten Musicals im Mostviertel vorhat.

Hasardeure sind Bayer und Steer aber nicht. Amstetten genießt in der deutschsprachigen Musicalszene Renommee. 14.000 Gäste, viele aus Wien, kommen jedes Jahr in die 23.000-Einwohnerstadt, um keck inszenierte Klassiker oder frische Bühnenware zu entdecken und im Provinz-Glamour zu funkeln. Mit "Carmen Cubana" hatte sich das Deutsche Theater hier 2006 eine so liebenswerte wie überraschend erfolgreiche Produktion geholt. Es war das Debüt-Stück der Regisseurin Kim Duddy und der Komponisten Werner Stranka und Martin Gellner - und eben diese drei haben nun "Rockville" gemacht.

Es solle ein Stück über Hoffnung werden - so präsentierte Duddy, die früher für Bob Fosse am Broadway getanzt hatte, ihre Idee Intendant Kropfreiter. Gut, aber bloß nichts mit Engeln, er wolle kein "Bauerntheater-Feeling", soll der entgegnet haben. Da fielen Duddy, Stranka und Gellner erst mal die Kinnladen herab: "Das war's dann." Denn - Zufall oder himmlischer Streich? - genau das hatten sie im Sinn: eine Geschichte über einen frisch gestorbenen Rockstar, der als Schutzengel auf die Erde zurückgeschickt wird.

Letztlich kurierten sie Kropfreiters "Flügelphobie", und auch das dreistündige Vorsprechen bei den alten Freunden in München lief wie geschmiert: "Wunderbar", freut sich Duddy, "sie geben uns eine Chance mit einem Stück, das noch nie gespielt wurde. Außergewöhnlich, gerade in dieser Zeit."

Es geht gut los: "Leck mich! Der neue Stoff törnt hammermäßig" - der vom Blitz erschlagene Musiker Brian Carr wacht in einer weißen Himmelslounge auf, in der ein - wie Rocker sagen würden - "schwuchteliger" Petrus in Hotpants und Stöckelschuhen umhertrippelt. Vergnügtes Gacksen im Publikum. Ungläubiges Staunen beim Untoten: "Hey, Scheiße Mann, wo bin ich hier, verfickt nochmal!" Im Land, wo sonst eher gepudert wird, wird man sich im Verlauf des Abends an das f-Wort gewöhnen müssen. Rock'n'Roll halt.

Der Himmelsbote war ein Rocker

Aber das "Rock" in "Rockville" steht für mehr: Natürlich für das "Sex, Drugs und Rock'n'Roll"-Vorleben des Himmelsboten - der einst Gefeierte ist am Ende ein Wrack, wie auch das von einem Tornado zerstörte amerikanische Musterstädtchen (es wäre übertrieben, hier eine Analogie zur Fritzl-Katastrophe Amstettens zu ziehen). Alex Melcher verkörpert den Rocker, den er auch privat gerne gibt (als Jugendlicher floh er aus dem Internat; heute hat er eine Band und verpennt Interviewtermine).

Im Musical spielte er den "Rocky Horror"-Eddy, den Kevin in "The Who's Tommy" und den Galileo in "We will rock you" - Brian May und Roger Taylor sollen ihn persönlich als Freddy-Mercury-Ersatz für ihren Queen-Auftritt bei "Wetten, dass...?!" bestimmt haben. Er legt den Brian Carr ein wenig an wie John Travolta den kaputten, weinerlichen Erzengel in Michael.

Ja, der kann rocken, kann mit der Gitarre Superheldenkräfte auf das Böse abfeuern - in Rockville sind das bezeichnenderweise lüstern tanzende und fies und flink rappende Hip-Hop-Gangster; deren Boss, der korrupte Bürgermeister im Wowereit-Look, wiederum pflegt einen eleganten Stil: "A politician's recipe for success is like Jazz." Ganz droben haben die Guten Soul und Gospel, aber auf der Erde ist Rock die Übermacht: Rock ist, wenn der Geflügelte mit Oma Evelyn die Nacht durchsäuft und morgens in ihren Klamotten aufwacht.

Rock ist auch ein Schutzschirm, die Musik des Freiheitskampfes (der Chor-Hit: "Stand up!") - und Rock ist kinderleicht: "Wer drei Akkorde spielen kann, hat das Zeug zum Rockstar. Ihr singt Uh und Ah und legt Euch mächtig ins Zeug. Jetzt machen wir Krach", rät der Engel einer Band aus Rentnern und Drei-Käse-Hochs, mit der er die Stadt zurückerobern will. "Wir können den Planeten retten, wenn wir alle zusammen den selben Song singen." Das allerdings klingt mehr nach Bono von U2 als nach Rock. Und auch, dass Obama vorschnell zum Engel erklärt wird, erscheint naiv.

Kim Duddy sieht das ein. "Ich war nach der Präsidentenwahl wie im Rausch", sagt sie, vielleicht werde sie hier nachbessern. Sie kann tun, was sie will. Der Intendant hat nicht viele Mittel bereitstellen können, aber er lässt dem Kreativteam freie Hand. Geldnot macht erfinderisch, und sie haben sich viel einfallen lassen und sich aufgearbeitet für das Stück: Sie haben ein hinreißendes Tohuwabohu an 22 Charakterköpfen zusammengesucht; sie haben eigenwillige und doch eingängige Nummern geschrieben; und sie setzen aufwendige Szenen in filmreife Bilder um: einen Mission Impossible-mäßigen Datenklau; eine Ghost-artige Bettszene mit einem Unsichtbaren; Billy-Elliot-hafter Stepptanz eines Knirpses in einer GI-Swingbar.

Am Ende bleibt das Gefühl, dass so ein hübsches Gewächs nicht in einer Musical-Fabrik sprießen kann, sondern nur unter der liebevollen Pflege eines kleinen Landgutes. "Rockville" hat durchaus die Anlagen, nach dem Umtopfen in München zu wurzeln.

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