Münchner Momente:In Sachen Liebe eine Tragödie

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Ein guter Stadtführer führt einen auch zu eher verborgenen Schätzen. Zum Beispiel zur schönen Julia - die eine überraschende Gemeinsamkeit mit den berühmten Residenzlöwen hat, die einem eingeborenen Münchner bisher nie aufgefallen ist

Von Wolfgang Görl

Was für eine Schmach: Da ist man eingeborener Münchner, aber um eine der verblüffendsten Attraktionen der Stadt zu bemerken, bedarf es einer chinesischen Reisegruppe. Da stehen also rund 30 etwas ältere Herrschaften aus Peking, Shanghai oder von sonstwo am Alten Rathaus, und während ihr chinesischer Stadtführer etwas erzählt, das nur der Chinese versteht, kichern sie in einer Tour. Der erste Gedanke: Die finden das alte Gemäuer komisch, vielleicht weil es kein Pagodendach hat. Von wegen. Den Chinesen ist das Rathaus wurscht, ihre Aufmerksamkeit gilt der bronzenen Julia-Statue, einem Geschenk der Sparkasse von Verona, das hier dezent versteckt ist. Und was man bisher aus genderpolitischer Korrektheit nicht wahrhaben wollte, wird bei einer Foto-Orgie der Chinesen vor Augen geführt: Die blanke rechte Brust der Julia ist genauso abgegriffen wie die glückbringenden Schnauzen der Residenzlöwen. Was für ein tolles Fotomotiv, vor allem, wenn man, wie es die Chinesen tun, selbst Hand anlegt - die Frauen mit beherztem Griff, die Männer so vorsichtig, als wäre Julias Brust ein Seeigel.

Die Begebenheit zeigt, wie segensreich es ist, einen guten Stadtführer zu haben. Einen, der auch zu eher verborgenen Schätzen führt. Hoffentlich hat der München-Kenner aus China den Hinweis nicht vergessen, dass sich die Tragödie um Romeo und Julia just hier im Alten Rathaus abgespielt hat, wobei die berühmte Balkonszene unter der Turmhaube ablief. Als Münchner weiß man vielleicht, dass dies Quatsch ist, aber so genau muss man es nicht nehmen, wenn es darum geht, den Ruhm der Stadt zu mehren. Was nämlich Liebestragödien von Weltrang betrifft, sieht es in München düster aus. Verona hat Romeo und Julia, Paris Abaelard und Heloise, Wien glänzt durch "Mörtel" Lugner und Begleiterinnen. Affären mit ähnlicher Wucht sucht man in München vergebens. Allenfalls Agnes Bernauer und Herzog Albrecht III. könnten mithalten, das tragische Ende fand aber an der Donau bei Straubing statt. Bei König Ludwig I. und Lola Montez wär' vielleicht mehr drin gewesen, so aber ist es doch die übliche Geschichte vom letzten Hurra des alternden Mannes. Irgendwie ist München ein schlechtes Pflaster für die alles verzehrende Leidenschaft. Deshalb streichelt der Münchner auch nicht Julia, sondern höchstens die Schnauze der Residenzlöwen.

© SZ vom 26.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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