Münchner SPD-Fraktionschef Reissl:Kein Mann für die Kuschelecke

Das Deutsche Theater in München nach der Sanierung, 2014

SPD-Fraktionschef Alexander Reissl - hier in der Künstlergarderobe des Deutschen Theaters - erntet für seinen jüngsten Vorstoß keinen Applaus.

(Foto: Robert Haas)

"In der Politik muss man hin und wieder was zuspitzen": Wenn Alexander Reissl den Streithansl gibt, freuen sich nur die Freunde des rustikalen Polittheaters. Das hat dem Münchner SPD-Fraktionschef eine stattliche Zahl an Gegnern eingebracht.

Von Wolfgang Görl

Es war eine der ersten Sitzungen des neugewählten Stadtrats, da machte Alexander Reissl seinem Ruf als Grünenfresser und Poltersozi mal wieder alle Ehre. Eben hatte Gülseren Demirel, die Fraktionschefin der Grünen, in patzigem Ton über das schwarz-rote Bündnis gelästert, welches, so der Vorwurf, dem CSU-Spitzenmann Josef Schmid nicht nur das Amt des Zweiten Bürgermeisters, sondern auch den Posten des Wirtschaftsreferenten zugeschanzt habe, und das alles per Personalgeschacher "hinter verschlossenen Türen".

Während Demirels Philippika hatte Reissl in der Zeitung geblättert, so als ginge ihn, den Vorsitzenden der SPD-Fraktion, das alles nichts an. Dann aber rückte er sein Sakko zurecht, schritt gemächlich zum Mikrofon und lehnte lässig den Ellbogen aufs Rednerpult. Ein paar einleitende Sätze, Belanglosigkeiten, leise ins Mikro gesäuselt, einschläfernd fast, bis seine Stimme allmählich lauter wurde, und endlich hallten Reissls Worte zackig-dröhnend wie ein militärischer Appell durch den Sitzungssaal: "Kollegin Demirel! Sie waren hinter den verschlossenen Türen dabei. Bestreiten Sie, dass hinter den verschlossenen Türen über Personalfragen gesprochen wurde?"

In Hollywoodfilmen ist das der Ton des Staatsanwalts beim Kreuzverhör. Die Kollegin Demirel reagierte mit Zwischenrufen, und als diese nicht durchdrangen, blaffte sie: "Hören Sie mal zu!" Darauf Reissl: "Nein, ich hör' Ihnen nicht zu, denn jetzt habe überwiegend ich das Wort."

Es ist eher etwas für die Freunde des rustikalen Polittheaters, wenn Alexander Reissl den Streithansl gibt. Der Fraktionschef der SPD im Stadtrat ist kein Mann für die Kuschelecke, jedenfalls nicht für die politische. Reissl, sagt einer seiner Genossen, "bemüht sich nicht, gemocht zu werden". Das hat ihm eine stattliche Zahl an Gegnern eingebracht, darunter auch Parteifreunde - und die können gefährlich werden.

Dann nämlich, wenn die eigene Autorität schwindet, weil irgendetwas schief gelaufen ist und ein Sündenbock gefunden werden muss. Wenn man angeschlagen ist und nur bedingt abwehrbereit: Dann kommen jene aus der Deckung, die die offene Auseinandersetzung bis dahin scheuten. Politiker vom Typ Reissl sind dabei besonders gefährdet. Er ist kein Netzwerker, keiner, der einer Seilschaft angehört, die ihn notfalls auffangen könnte.

Mehrmals zappenduster

Für Reissl sah es in jüngerer Zeit mehrmals zappenduster aus. Schon vor der Kommunalwahl, im Herbst 2013, als die Münchner SPD noch auf Rot-Grün gepolt war, drangen aus dem inneren Zirkel der Partei gelegentlich Stimmen, die eine Ablösung Reissls als Fraktionsvorsitzenden empfahlen. Zu rabiat sei er, zu provinziell für eine moderne Großstadtpartei. Reissl, der keine Hemmungen hat, führende Grünen-Politiker schon mal öffentlich als "deppert" zu bezeichnen, sollte quasi zur Verbesserung des künftigen Koalitionsklimas geopfert werden.

Stattdessen ging im März das Projekt Rot-Grün vor die Hunde, weil es bei der Wahl die Mehrheit verfehlt hatte - aber deshalb war Reissl noch lange nicht auf der sicheren Seite. Sechs Jahre, seit 2008, hatte er die SPD-Fraktion geführt, da machte es sich gar nicht gut, dass bei der folgenden Stadtratswahl das schlechteste Ergebnis seit 1948 herauskam. Nach solchen Schlappen sehen Parteifreunde jedweder Couleur gerne Köpfe rollen - vorzugsweise die führenden Köpfe.

Doch siehe da: Obwohl Reissls politisches Ende allenthalben vorhergesagt wurde, wählte ihn die nunmehr geschrumpfte Fraktion wieder zum Chef. Nicht einmal mit einem Gegenkandidaten musste er sich herumschlagen. Was war geschehen? Offenbar hatte Reissl bei den Koalitionsverhandlungen - der vorgeblichen Kungelei hinter verschlossenen Türen - eine gute Figur gemacht. Womöglich dämmerte es den Sozialdemokraten auch, dass es hilfreich ist, einen Mann an der Fraktionsspitze zu haben, der Sitzungsvorlagen, Verträge und dergleichen bis ins letzte Detail studiert und im Gedächtnis speichert.

Was das betrifft, hört man in der SPD nur Gutes über Reissl, und manchmal fällt das Lob so hymnisch aus, dass es der Laudator nur anonym äußern möchte: "Sachlich und fachlich gibt es niemanden in der SPD-Fraktion, der ihm das Wasser reichen könnte." Und als harter Hund gilt er ja zudem, was sich bei künftigen, gewiss unausweichlichen Reibereien mit dem Bündnispartner CSU noch als sehr nützlich erweisen könnte - zumal die Schwarzen auch einige Haudegen in ihren Reihen haben.

Parteisoldat und Zuchtmeister

Reissl der Kämpfer, der Parteisoldat und Zuchtmeister, der Pragmatiker ohne Visionen: Es gibt viele solche Etiketten, die an ihm kleben. Aber ist das alles? Lässt sich über den 56-Jährigen, der zu den einflussreichsten Kommunalpolitikern der Stadt zählt, nicht mehr sagen als das, was aus der Ecke der Grünen - "aber bitte lassen Sie meinen Namen weg" - zu hören ist? "Im Wesenskern ist er unglaublich farblos."

An einem Augustabend sitzt Reissl zum Gespräch im SPD-Fraktionszimmer, er trägt einen dunklen Anzug, seine Augen sind leicht gerötet. Tagsüber war er auf der Beerdigung eines Freundes, man sieht, es hat ihn mitgenommen. Vielleicht hätte er lieber seine Ruhe, aber er nimmt sich zusammen, es hilft ja nichts. Er ist ja hier, um etwas zu erzählen. Und Reissl erzählt.

Erzählt von der Kindheit, die glücklich war, wenngleich nicht ganz unproblematisch. Der Vater war ein Wiener, den es nach München verschlagen hatte, wo er eine Künstleragentur gründete. Nicht für die Bühnen der großen Welt, sondern eher für die Halbwelt. Er hatte Musikkapellen und Tänzerinnen in seiner Obhut, die er an Nachtklubs in halb Europa vermittelte.

"Tänzerinnen? Waren das Stripperinnen?"

"Ja, Stripperinnen."

Reissl sagt das mit ziemlichem Ernst, nicht die Spur eines frivolen Lächelns ist zu sehen. Viel wisse er nicht über seinen Vater. Die Eltern lebten getrennt, seine Mutter musste täglich zur Arbeit, zuletzt werkelte sie im Presseamt der Stadt. Folglich verbrachte er seine Kindheit vorwiegend bei den Großeltern in Moosach. Nach der Grundschule besuchte er das Wittelsbacher Gymnasium, wo er auch das Abitur machte. Und dann? Was tun? Reissl ging auf die Uni, Jurastudium. Nach zwei Semestern hatte er genug gehört, um zu wissen, dass dies nicht seine Welt ist. Er sattelte um und absolvierte eine Ausbildung als Druckformhersteller. Auch das blieb er nicht ein Leben lang. Heute arbeitet er in der Stadtsparkasse München.

Als Schüler in die SPD

Reissl war noch Schüler, 16 Jahre alt, als er in die SPD eintrat. Schon seit Jahren hatte er sich für Politik interessiert, großen Anteil daran hatte der Großvater. Der war Spenglermeister, und dazu ein Linker. Es war die Zeit, in der Willy Brandt Bundeskanzler war, die Jahre des Aufbruchs, in denen die SPD mit einer neuen Entspannungs- und Ostpolitik den Kalten Krieg zu überwinden suchte.

Der Opa sprach viel darüber, das färbte ab. "Mit zwölf Jahren hab' ich mein erstes politisches Buch gelesen - Willy Brandts ,Friedenspolitik für Europa'." Alles hat er nicht verstanden, "aber ich habe zum Beispiel gelernt, was ,bilateral' und ,multilateral' bedeutet".

Politische Theorie hat ihn weniger interessiert, das ist bis heute so geblieben. Während viele seiner jungen Genossen damals Marx oder Horkheimer lasen und sich die Köpfe über Revisionismus, Stamokap- Theorie und sozialistische Gesellschaftsmodelle heißredeten, begab sich Reissl auf die Ochsentour der Kommunalpolitik. Da war das Engagement im SPD-Ortsverein Moosach, da waren die Debatten im Bezirksausschuss, da war das Amt des BA-Vorsitzenden, das er zwölf Jahre lang innehatte - politische Kärrnerarbeit, bei der menschheitsbeglückende Visionen weniger gefragt waren als die Kenntnis der Bauordnung und des Verlaufs der Fußwege. Kommunalpolitik macht einen schnell pragmatisch. Da theoretisiert man nicht.

Moosach, immer wieder Moosach

In diesen Jahren ist im Bezirksausschuss noch richtig heftig gestritten worden. CSU gegen SPD - das waren weltanschauliche Gegensätze, die tiefreichende persönliche Abneigungen begründeten. Auch die Stadtteilpolitik war hochideologisiert, und an Themen wie Verkehrsberuhigung oder Bürgerhäuser konnten sich Debatten entzünden, bei denen die Schwarzen die Roten als Kommunisten beschimpften und die Roten die Schwarzen als Nazis.

Reissl natürlich mittendrin im Getümmel, getreu seiner bis heute geltenden Devise: "In der Politik muss man hin und wieder was zuspitzen." Er erzählt das mit leicht belustigter Miene, so als wollte er sagen: War schon ein Schmarrn, aber wir waren jung und brauchten den Streit.

Moosach, immer wieder Moosach. Reissl wird oft vorgeworfen, er betreibe Politik nach Moosacher Maßstäben, es fehle ihm an Weltläufigkeit und urbanem Geist; und während etwa Christian Ude die Aura eines Schwabinger Bohemien umflort, wirkt Reissl, der häufig im Trachtenjanker auftritt, wie der Angestellte einer ländlichen Sparkasse. Er ist Moosach treu geblieben, bis heute wohnt er in dem Viertel zusammen mit seiner Lebensgefährtin. "Da bleib ich auch", sagt er. "Da kenn ich die Leute, und die kennen mich, und man erlebt auch, dass man geschätzt wird." Moosach ist seine Heimat, und die Heimat ist ihm wichtig - was ja nicht heißt, dass er deshalb hinterm Mond lebt. Der erwachsene Sohn aus erster Ehe hat Moosach allerdings verlassen. Er wohnt in Glasgow.

Schön, wenn einer so exakt das Klischee zu erfüllen scheint, dass über ihn im Umlauf ist. Und Reissl gibt sich keine Mühe, dem rot-grünen Milieu zuliebe sein Image zu ändern. Im Gegenteil, er bleibt der ewige Moosacher, der mitunter ein wenig ruppiger und härter ist, was ja auch seinem Musikgeschmack entspricht. Reissl hört am liebsten, nein, nicht Volksmusik, sondern harten Rock, vorzugsweise von Deep Purple. Wenn die Hardrock-Band um den Keyboarder Jon Lord in den Siebzigerjahren in München auftrat, war Reissl dabei.

Und, merkwürdig: Es fällt nicht schwer, aus seinem Gesicht herauszulesen, wie er damals aussah: Reissl, der Rocker, der zu Klassikern wie "Smoke on the Water" das schulterlange Haar fliegen ließ. Vielleicht war er damit, zumindest in Moosach, ein Bürgerschreck, ein Revoluzzer.

"Wir müssen doch Wohnungen bauen"

Im Frühjahr 1996 hat er dann doch den Moosacher Kosmos verlassen, Reissl wurde Stadtrat. Wieder folgten zwölf Jahre Kärrnerarbeit, mit der er sich zunehmend als politisches Talent profilierte - eine Eigenschaft, die in der SPD-Fraktion bis heute nicht über die Maßen verbreitet ist. 2008 avancierte er zum Fraktionschef, als Nachfolger des nicht ganz so streitbaren Gewerkschafters Helmut Schmid. Die Grünen erinnern sich ungern an diesen Postenwechsel. "Von da an gab es regelmäßig Krisensitzungen", sagt einer von ihnen. Reissl sei kompromissunfähig, jeden Kompromiss betrachte er als Niederlage der SPD.

Natürlich kennt er derlei Beurteilungen, man hat ja oft genug darüber geschrieben: Reissl hält wenig von den Grünen, und die Grünen halten wenig von Reissl. Er dementiert das auch nicht wirklich, wozu auch? Würde ja doch keiner glauben. Prinzipiell sei für ihn "jede andere Partei ein politischer Gegner", bei den Grünen aber komme hinzu, dass sie oft zur "symbolischen Politik" neigten - ein Gräuel für den Pragmatiker Reissl.

Da würden Ideen propagiert, die sich gut anhörten, etwa jedes Münchner Gebäude in ein Plusenergiehaus zu verwandeln. Doch sobald man genauer hinschaue, blieben viele Fragen offen: Wer soll das bezahlen, wer kann sich so ein Haus noch leisten, wie hoch wäre die Miete? "Wir müssen doch Wohnungen bauen, die die Leute bezahlen können." Nur von irgendwelchen Leuchtturmprojekten zu schwafeln, sei lupenreine Symbolpolitik. Pragmatisch denken - für Reissl ist das eine Tugend. Seine Kritiker sehen darin den Nachweis seiner Fantasielosigkeit.

"Mit Ude lief das rein geschäftsmäßig"

Zuletzt waren es drei parteiinterne Arbeitsgruppen, die der Münchner SPD generell, aber auch der Stadtratsfraktion ein miserables Zeugnis ausgestellten. Zu wenige Ideen hätten die roten Stadträte, es fehle an Mut und Sachverstand. Reissl hält die Kritik für ungerecht. Aus der Fraktion seien viele Ideen gekommen, gerade in puncto Wohnungsbau. Aber das sei halt nicht spektakulär. "Was wir nicht gemacht haben, sind die symbolhaften Dinge, so Themen wie die ,Eroberung des öffentlichen Raums'." Reissl winkt ab. "Was ist denn daran neu?" Straßenfeste habe es schon immer gegeben. Und außerdem: "Man kann die Stadt nicht jedes Jahr neu erfinden."

Auch da zeigt sich, was Reissl so auf die Nerven geht: einfach mal neue Ideen zu fordern, ohne selbst welche zu haben; die Schaumschlägerei, die Schaufensterpolitik. Das ist nichts für einen Pragmatiker. Da nimmt er in Kauf, als einfallslos zu gelten. Oder, wie ein Genosse bedauernd sagt: "Der Reissl hat keinen politischen Sex-Appeal." Nicht zuletzt deshalb ist aus seinen durchaus vorhandenen Ambitionen, Oberbürgermeister zu werden, nichts geworden. Dazu müsste man schon geschmeidiger sein oder ein Performancekünstler wie Christian Ude, der selbst die Inthronisation des Münchner Faschingsprinzenpaares zum lustigen Ereignis machen könnte.

Wer andere, die natürlich wieder nicht genannt sein wollen, über das einstige Führungsduo Ude/Reissl befragt, hört Sätze wie diesen: Ude hält Reissl für einen Provinzler, und Reissl hält Ude für einen eitlen Pfau. Clever, wie die beiden nun mal sind, lässt sich keiner zu derartigen Schmähungen des anderen hinreißen. Reissl denkt ein paar Sekunden nach, ehe er sagt: "Mit Ude lief das rein geschäftsmäßig. Er ist nicht mein Freund." Ude wiederum sagt: "Reissl ist, gemessen auch an seiner beruflichen Ausbildung, hoch qualifiziert in Baufragen, ein großer Fachkenner in Wirtschafts- und Finanzpolitik, und er war ein ganz wichtiger Verbündeter beim Thema Kliniksanierung."

Nach dem Schlagabtausch mit Gülseren Demirel hatte Reissl während der Stadtratssitzung noch einen großen Auftritt. Es ging um den Klinikrettungsplan, für den zig Änderungen zur Abstimmung standen. Jeder Satz kam auf den Prüfstand, mal sollte ein Wort hinzugefügt, mal eines gestrichen werden. Eine komplizierte Materie, wie gemacht für den Aktenstudierer Reissl. Und bald merkte man, wie froh seine Fraktionskollegen waren, dass wenigstens einer durchblickte. Auch einige CSU-Stadträte schielten während der Abstimmungen hinüber zu ihm. Aha, der Reissl ist dafür, also können wir auch die Hand heben. Und man verstand, warum es in SPD-Kreisen heißt: "Reissl ist eine Schlüsselfigur für Schwarz-Rot." Nicht schlecht für einen, den man politisch schon für tot erklärt hatte.

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