Münchner Seiten:Ein Bild von einer Stadt

"Das München-Album" zeigt Szenen aus den Jahren von 1945 bis 1972. Wer die Zeit erlebt hat, sieht beim Blättern mehr, als abgebildet ist. Alle anderen haben viel zu entdecken

Von Wolfgang Görl

Beim Herumstöbern in Kisten und Kartons, die jahrzehntelang unbeachtet im Keller oder im Speicher herumlagen, findet man mitunter alte Fotos, die Geschichten aus längst vergangenen Tagen erzählen. Geschichten aus der Kindheit, die erste Reise ans Meer, Besuche im Zoo, Weihnachten mit den Eltern und Großeltern, die Freunde, die Schulklasse; Geschichten von Fahrten mit einem mehr als klapprigen VW-Bus nach Griechenland, von Feten in verräucherten Studentenbuden, von Nächten an der Isar. Die Klamotten, die Frisuren, die Autos, die Möbel - sonderbar sehen sie aus, unmöglich eigentlich. Seltsam, dass so etwas mal Mode war (und irgendwann wieder sein wird). Man wandert gleichsam durch eine versunkene Welt, eine Welt, in der man einst zu Hause war.

So einen Spaziergang durch die Vergangenheit bietet das Buch "Das München-Album", das soeben im Volk-Verlag erschienen ist. Tatsächlich ist es gestaltet wie ein privates Fotoalbum, auf dessen schwarzem Papier irgendjemand seine Bilder mit Tesafilm geklebt und diverse Seiten voller Erinnerungen, getippt mit der Schreibmaschine, hinzugefügt hat. Die Fotos, die da zu sehen sind, zeigen Münchner Szenen in der Zeit von 1945 bis 1972. "Dieses München-Album", schreibt Mitherausgeberin Katja Sebald im Vorwort, "lädt zu einer Zeitreise in die turbulenten Jahre zwischen Wirtschaftswunder und Studentenrevolte ein." Der Foto-Fundus besteht im Wesentlichen aus den Einsendungen für einen Wettbewerb, den die Fotocommunity der Süddeutschen Zeitung veranstaltet hat.

Was haben die Leute da alles ausgegraben? Bilder aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, zerstörte Häuser, die Ruine des Alten Rathauses, US-Soldaten, die Süßigkeiten an Kinder verteilen. Aber schon bald kehrt eine, wenn auch verquere, Normalität zurück, in Holzhütten und Behelfsbauten blüht der Handel, es gibt wieder Südfrüchte, Schnaps und "Delikatessen". Auf dem Viktualienmarkt verkaufen Marktweiber, mit Kopftuch und in dicke Mäntel gehüllt, Kraut und Kartoffeln. Etwa zur Mitte der Fünfzigerjahre entdecken Münchens Amateurfotografen mehr und mehr den Farbfilm, und es ist, als würde die eben noch graue Stadt mit einem Mal bunt. Später dann: die Schwabinger Krawalle, Studentenproteste, Gastspiel der Beatles, Gammeln am Monopteros im Englischen Garten, das schicke Leben in den Cafés auf der Leopoldstraße. Und schließlich graben sie die Stadt um, München macht sich fein für die Olympischen Spiele. Wer die Zeit erlebt hat, sieht beim Blättern im Buch mehr, als dort abgebildet ist. Eigene Bilder steigen aus dem Gedächtnis auf, das persönliche Fotoalbum, das irgendwo im Gehirn lagert.

Da und dort ist es aber auch gut, wenn einem ein Zeitzeuge auf die Sprünge hilft. Im vorliegenden Fall ist dies der wunderbare Schriftsteller Gerd Holzheimer, der 2013 mit dem Ernst-Hoferichter-Preis ausgezeichnet wurde. Holzheimer, Jahrgang 1950, hat den Fotos ein "Erinnerungs-Tagebuch" zur Seite gestellt, das den Titel "Wie werde ich Achtundsechziger?" trägt. Im herrlich lakonischen Ton erzählt er von seinen Kinder- und Jugendtagen in München, und wie es war, als er mit seinen Freunden die Griechisch-Stunde im Ludwigsgymnasium sausen ließ und sie lieber auf einer Jolle über den Starnberger See dümpelten. Sokrates war ihr Held, der "ziegenbärtige Anarchist auf dem Marktplatz von Athen". Diesen sokratischen Anarchismus, gepaart mit dem Münchner Hedonismus pflegte Holzheimer dann auch als Germanistikstudent im Institut für Deutsche Philologie in der Schellingstraße. Er war dabei, als die jungen Leute nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 in der Barerstraße gegen die Bild-Zeitung demonstrierten, die man als Anstifter des Mordversuchs betrachtete. "Es war wirklich genug, es reichte, und zwar voll. Diese Generation hatte ausgespielt, da kannten wir keine Gnade. Wir akzeptierten nicht mehr, dass zwanzig lange Jahre, quälend lange Jahre verstreichen müssen, ehe sich eine Gesellschaft allenfalls halbherzig mit dem Schaurigsten, das man sich nicht einmal vorstellen kann, beschäftigt: mit Auschwitz."

Da war zwar die Wut, die so viele spürten, aber blind machte sie Holzheimer nicht. Er blieb der undogmatische Linke. Mit den K-Gruppen oder dem Marxistischen Studentenbund Spartakus, dessen Mitglieder die Sowjetunion als das gelobte Land betrachteten, konnte er so wenig anfangen wie mit dem Theoriegefasel der Roten Zellen, deren Kern die in München berühmten Genossen Fertl, Ebel und Held bildeten. Holzheimer betrieb Studium und Revolution in gewohnter Manier, diesmal in Griechenland: "Aus dem Starnberger See war die Ägäis geworden, wieder brachten wir uns selbst bei, was wir glaubten, wissen zu wollen, das reicht auch noch für ein ganz passables Examen. Wir brauchten erst gar nicht zu beweisen, dass eine der Hauptthesen der Kritischen Theorie, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, Unsinn ist. Wir lebten das richtige Leben, ein für uns richtiges Leben, wenn auch nur auf Inseln, auf Inseln in der Ägäis."

Was soll man sagen? Da hat er recht.

Katja Sebald, Gerd Holzheimer: Das München-Album - Zwischen Wirtschaftswunder und Studentenrevolte. Volk-Verlag. 156 Seiten mit zahlreichen Abbildung, 24,90 Euro.

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