Münchner Schüler beim IS:Verschwunden trotz aller Aufmerksamkeit

  • Ein 14-jähriger Junge aus München, der sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) anschließen wollte, ist in der Türkei festgenommen worden.
  • Nun soll er zurück nach Bayern gebracht werden, wo sich Therapeuten um ihn kümmern werden.
  • Der Junge war in den vergangenen Monaten in die islamistische Szene gerutscht und mit einem gestohlenen Pass durch Europa gereist.

Von Viktoria Großmann und Katja Riedel, München/Dachau

Als die türkische Polizei ihn am Freitag am Busbahnhof von Gaziantep festnahm, endete die Reise des jungen Münchners nach Syrien. Statt zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS), reist der Jugendliche, der erst vor wenigen Tagen 14 Jahre alt geworden sein soll, nun zurück nach Bayern. Dort werden sich Therapeuten und Sozialarbeiter darum bemühen, ihn von dem radikalen Gedankengut abzubringen, das ihn dazu brachte, seine Heimat zu verlassen, um für das selbsternannte Kalifat kämpfen zu wollen. Es wird kein leichter Weg sein, zurück zur Normalität.

Immer tiefer war der 13-Jährige in den vergangenen Monaten in die islamistische Szene gerutscht, in ein System, das sich üblicherweise aus echten Menschen und einer großen virtuellen Dschihad-Gemeinschaft in sozialen Netzwerken speist.

Die Mutter suchte Hilfe, als der Junge sich radikalisierte

Der 13-Jährige geriet wie viele andere Jugendliche in diesen Strudel, in dem sie immer schwerer ansprechbar werden. Dabei haben viele Stellen vieles richtig gemacht. Als die alleinerziehende Mutter bemerkte, dass ihr Sohn sich immer stärker für seine Religion interessierte und ein radikales Gedankengut entwickelte, suchte sie sich Hilfe in einem Münchner Sozialbürgerhaus. Das Stadtjugendamt wurde nach SZ-Informationen eingeschaltet und nahm sich der Familie an, der Staatsschutz und Beratungsstellen waren informiert. Und der Junge zog Anfang des Jahres sogar in eine Jugendhilfeeinrichtung in Dachau.

Dort arbeiten Sozialpädagogen mit den Jugendlichen - eine spezielle Ausbildung zur Deradikalisierung haben sie jedoch nicht. Ein erfahrener Ermittler aus Bayern sagt: "Wir erleben großes Engagement, einen großen Einsatz, aber es gibt noch zu wenig Erfahrung und Kompetenzen im Umgang mit radikalisierten islamistischen Jugendlichen."

Eine Woche lang reiste er mit dem Zug durch Europa

Im Fall des damals noch 13-Jährigen gelang es dem Jungen, trotz aller Aufmerksamkeit zu verschwinden. Am 21. Juli meldete ihn die Heimleitung als vermisst. Etwa eine Woche lang reiste er mit dem Zug und einem gestohlenen Pass durch Europa, gelangte schließlich über die Grenze zur Türkei und nach Gaziantep. Um solche Ausreisen zu verhindern, arbeiten auch Wissenschaftler weltweit derzeit Radikalisierungsbiografien auf, unter anderem am Centre for Studies in Islamism and Radicalisation an der Universität Aarhus in Dänemark.

Die Forscher wollen Gemeinsamkeiten herausfinden zu Radikalisierungswegen und zu Zeitfenstern, in denen die Kinder besser ansprechbar scheinen als zu anderen Zeitpunkten. Es geht um Risikofaktoren, die Jugendliche empfänglich für den radikalen Islam machen. Fast alle haben Konflikte innerhalb ihrer Familien erlebt. Und kaum jemand radikalisiert sich allein, sondern es gibt Helfershelfer.

Auch in München und Bayern hat die Politik erkannt, dass der Staat all dem etwas entgegensetzen muss. Am Dienstag hat das bayerische Kabinett beschlossen, ein ressortübergreifendes Netzwerk zu gründen. 400 000 Euro will das Innenministerium aus dem Polizeihaushalt bereitstellen, um im Landeskriminalamt eine Stelle für Angehörige radikalisierter Personen zu schaffen. Betreiben sollen die Stelle Profis, etwa vom Violence Prevention Network.

Dieses wird derzeit vom Bundesfamilienministerium mitfinanziert - doch die Mittel reichten nicht aus, um allen Familien die Hilfe anbieten zu können, die sie sich wünschen. Auch im Justizvollzug, in dem sich viele junge Männer radikalisiert haben, sollen Imame als Ansprechpartner eingesetzt werden.

Auch München reagiert auf den sich ausbreitenden Salafismus

Auch die Landeshauptstadt hat im vergangenen Jahr erkannt, dass sie Expertise braucht, um dem sich immer stärker ausbreitenden Salafismus zu begegnen. Die bisherige Fachstelle für Rechtsextremismus unter Leitung von Miriam Heigl wurde in Fachstelle für Demokratie umbenannt, seit September widmet sich das Team auch dem Islamismus. Es sei bewusst eine Gesamtschau auf das Thema Extremismus, so Heigl, auch, um dem Thema Islamfeindlichkeit zu begegnen, das Radikalisierungsprozesse mit befeuere.

Man sei derzeit noch in einem Lernprozess, sagt Heigl. Sechs Fortbildungsveranstaltungen für Fachkräfte, unter anderem Lehrer, hat die Stelle seit Herbst organisiert, mehr als 500 Teilnehmer weitergebildet. Auch im Stadtjugendamt gibt es eine Clearingstelle: einen Pädagogen, bei dem sich Fachleute wie etwa Lehrer bei Verdachtsfällen beraten lassen können.

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