Münchner Schauspieler:Gerd Anthoff, der scheue Atheist

Münchner Schauspieler: "Ich spiele immer dann gerne, wenn es in der Rolle etwas zu entdecken gibt: Humor, Verzweiflung, Abgründe", sagt Gerd Anthoff.

"Ich spiele immer dann gerne, wenn es in der Rolle etwas zu entdecken gibt: Humor, Verzweiflung, Abgründe", sagt Gerd Anthoff.

(Foto: Catherina Hess)

Der Schauspieler hat von Ingmar Bergman gelernt, ein echter Kotzbrocken zu sein - auf der Bühne. Und später im Fernsehen.

Von Gerhard Fischer

Ingmar Bergman hat Gerd Anthoff gelehrt, wie man Aggressionen spielt. Der Regisseur, der Schweden wegen Steuersorgen verlassen hatte, und der Schauspieler trafen sich in den Achtzigerjahren am Residenztheater in München. Anthoff spielte in Ibsens "Nora" den Erpresser Krogstad. "Und Bergman hat bestimmt, dass die Rolle vom Scheitel bis zur Sohle mit Aggressionen ausgefüllt sein musste", erzählt er.

Das Problem war, dass Gerd Anthoff eher ein sanfter Mensch ist.

"Bergman wusste das", sagt Anthoff, "und deshalb hat er bei der Probe unterschwellig eine ungeheure Aggression ausgestrahlt - gegen alles und jeden." Anthoff hat die Schwingungen aufgenommen. "Ich war plötzlich wie der Fisch im Wasser", sagt er. "Und seit dieser Zeit kann ich die Aggressionen auf der Bühne ausleben."

Und vor der Kamera.

Gerd Anthoff, 70, hat in seiner Fernseh-Karriere ein paar Kotzbrocken gespielt, etwa den rücksichtslosen Bauunternehmer Toni Rambold in "Der Bulle von Tölz" oder den korrupten Kommissar Dr. Claus Reiter in "Unter Verdacht". In der ersten Folge hat Reiter sogar einen Mordanschlag auf seine Kollegin Eva Prohacek (Senta Berger) initiiert. "Es kam nie heraus, ob er tatsächlich dahinter steckte", sagt Anthoff, "aber er steckte dahinter." Wenn das einer wissen muss, dann er.

Gerd Anthoff sitzt im Stadtcafé und erzählt unentwegt Geschichten - von Berger, von Bergman oder vom Brandner Kaspar, wo er mehr als 950 mal den Nantwein spielen durfte. Dabei hatte der Spiegel einmal über Anthoff geschrieben, dieser entziehe sich "dem Mediengetümmel fundamentalistisch".

"Ich gebe selten Interviews", sagt er dazu, "und mit roten Teppichen kann ich gar nichts anfangen." Warum? "Ich bin scheu." Auf die Anfrage der Süddeutschen Zeitung hatte er freundlich, aber zurückhaltend geantwortet: "Wir können gerne versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen."

Die Scheu ist ein Charakterzug, aber sie kann auch damit zu tun haben, woher ein Mensch kommt. Gerd Anthoff ist nicht in einem reichen Akademiker-Haushalt aufgewachsen, in dem das Selbstbewusstsein zur inneren Einrichtung gehört. Anthoff stammt aus kleinen Verhältnissen im Münchner Westend.

Als er 1946 zur Welt kam, wurden dort die Trümmer des Zweiten Weltkriegs weggeräumt. Die Kinder hat das nicht bekümmert, sie spielten zwischen dem Schutt in den Hinterhöfen. "Es war eine schöne Kindheit", sagt Anthoff. Aber es folgte "eine bedrückende Jugend". Er will nicht weiter ausführen, worin die Sorge bestand. Trost fand er im Theater.

Ein Arbeiterkind im Theater

Anthoffs Tante Fanni arbeitete im Residenztheater an der Garderobe. Sie sei, ähnlich wie seine Eltern, "keine schöngeistige Theaterliebhaberin" gewesen, sagt er, aber es sprangen hie und da ein paar Freikarten heraus. "Ich liebte den Glanz, das Licht, das Glitzern", sagt Anthoff. Und es wuchs der Wunsch, Schauspieler zu werden. "Für mich war das ein Weg, aus meiner Bedrückung heraus zu kommen."

Gerd Anthoff besuchte in dieser Zeit die Oberrealschule. Es war eine mathematische Schule, und Anthoff hatte mit Mathe so viel am Hut wie ein Sumo-Ringer mit Skispringen. Aber er traf dort auf einen jungen Referendar, der eine Schauspielerausbildung hinter sich hatte: auf Wolf Euba.

Euba, später auch Regisseur, Autor und Sprecher beim BR, schickte Anthoff zu dem Schauspiellehrer Peter Rieckmann. "Das war ein Glück", sagt er, "Rieckmann brachte mir das Handwerk bei, nicht die Kunst." Eine Übung war, dass Anthoff, während er einen Monolog sprach, gleichzeitig einen Tisch decken musste.

Während er das erzählt, rührt er in seinem Milchkaffee.

Anthoffs Eltern reagierten, wie die meisten Eltern damals reagiert hätten: Der Junge sollte "was Brauchbares" lernen, sagten sie, also fing er bei der Bayerischen Versicherungskammer an - und hörte drei Monate später wieder auf. Er hatte mit Versicherungen so viel am Hut wie mit Mathematik. Gut, dass er ein Stipendium beim BR bekam, ein "Stipendium zu Förderung des einheimischen Sprecher- und Schauspielernachwuchses". Unterrichtet wurde er von Gustl Bayrhammer und Fritz Strassner, die er später beim Brandner Kaspar wiedertreffen sollte. Und von Eva Vaitl. "Eva Vaitl war eine großartige Schauspielerin, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist", sagt Anthoff. "Sie brachte mich ans Residenztheater."

Dort blieb er - mit einer kurzen Unterbrechung - Jahrzehnte lang. Als 1975 "Der Brander Kaspar und das ewig' Leben" am Resi erstmals aufgeführt wurde, spielte Anthoff den Nantwein, einen Heiligen, der zusammen mit dem seligen Turmair (Ludwig Schmidt-Wildy) und dem Erzengel Michael (Heino Hallhuber) Karten spielt, Weißwürste isst - und die Toten im Paradies begrüßt. Nantwein ist ein bisschen blasiert, er redet manchmal Lateinisch und würde gerne Nantovinus genannt werden, was der bodenständige Schmidt-Wildy mit einem lässigen "ja, ja" (im Sinne von: "Is' scho recht") ins Leere laufen lässt.

Schmidt-Wildy, Strassner (Brandner Kaspar), Toni Berger (Boandlkramer) und Bayrhammer (Portner) - die großen Volksschauspieler standen bei diesem Stück gemeinsam auf der Bühne. Und haben sicher hinter den Kulissen Geschichten geliefert, die Anthoff heute als Anekdoten erzählen kann. Oder?

Zum ersten Mal in diesem Gespräch schweigt Gerd Anthoff eine Weile. "Natürlich gibt es Anekdoten", sagt er schließlich, "aber wenn ich sie erzähle, würde es auf Kosten von Kollegen gehen." Anständig von ihm. Und harmlosere Sachen? Wieder schweigt er. Denkt er an harmlosere Sachen? Ringt er mit sich? Nervt ihn die Nachfrage? Man kann es an seiner Miene nicht erkennen. Er schaut einfach.

"Eine Sache kann ich, glaube ich, schon erzählen", sagt er schließlich. "Es war ja allgemein bekannt, dass Toni Berger - euphemistisch ausgedrückt - ein sehr sparsamer Mensch gewesen ist." Berger habe deshalb gerne die Theaterrequisiten gegessen - die Weißwürste, die hinter der Bühne lagerten, und die Breze vom Nantwein alias Anthoff. "Ich habe auf der Bühne immer angefangen, meine Breze zu essen und wollte sie dann in der Pause fertig essen - aber sie war immer weg." Berger hatte sie gegessen. "Ich habe dann angefangen, sie an anderen Orten zu verstecken, aber er hat sie überall gefunden."

Anthoff hat es Toni Berger nicht übel genommen. Andere Sachen haben ihn gestört, als er jung gewesen ist - etwa, wenn Schauspieler ihren Beruf nicht ernst genommen haben. Für ihn, Gerd Anthoff aus dem Westend, war es ein Traum, auf der Bühne zu stehen. Entsprechend hoch war sein Anspruch, es gut zu machen. "Aber da gab es welche aus gutem Hause, die haben so larifari gespielt", sagt er. Da war er dann auch mal schroff.

Heute sei er gelassener, sagt er. Altersmilde gar. Wenn ein Kollege nachlässig oder unbegabt sei, leide er zwar immer noch. Aber er sage nichts mehr.

Anthoff ist nie aus der "kleinbürgerlichen Herkunft ausgebrochen"

Gelieben ist die Sympathie für eine gewisse Einfachheit und Bodenständigkeit. Anthoff hat seinen Beruf immer in München ausgeübt, er wohnt zwar nicht mehr im Westend, aber nicht weit entfernt am Westpark, und er sagt, er sei "nie gewaltig aus seiner kleinbürgerlichen Herkunft ausgebrochen". Wenn er zum Beispiel die Wahl hätte "zwischen einer ordentlichen Wirtschaft und dem Tantris", dann würde er in die ordentliche Wirtschaft gehen. Einer Zeitung in Nordrhein-Westfalen hat er mal gesagt, er sei kein Kosmopolit.

Als er an diese Aussage erinnert wird, lacht Gerd Anthoff das Lachen, das man von seinen Figuren Rambold oder Reiter kennt: dieses sonore Aufheulen. "Aber natürlich bin ich kein Dimpfl", sagt er dann. Er liest viel, und er liebt Kammermusik. Wegen einer eigenen Lesung versäumte er gerade ein Konzert von Martin Grubinger und Yuja Wang im Prinzregententheater. "Ich werde mich in 100 Jahren noch ärgern, dass ich da nicht hingehen konnte", sagt er. Anthoff, bisher gleichmäßig gelassen, freundlich und höflich, ist jetzt begeistert. Leidenschaftlich. "Oder die Geigerin Tianwa Yang", ruft er, "die müssen Sie hören - schauen Sie sich das auf Youtube an." Er macht eine Pause. "Atemberaubend", sagt er.

In den Neunzigerjahren kam der Bühnen-Schauspieler Gerd Anthoff immer häufiger ins Fernsehen, in der famosen Serie "Löwengrube" gab er den ängstlichen Amtmann Deinlein. "Ich spiele immer dann gerne, wenn es in der Rolle etwas zu entdecken gibt: Humor, Verzweiflung, Abgründe", sagt er. Senta Berger hat es in einem Interview zum 70. Geburtstag von Anthoff im Sommer so gesagt: "Gerd Anthoff interessiert immer die Seite der Figuren, die nicht geschrieben ist." Es gibt Rollen, die er gerne gespielt hätte, aber nie spielen durfte. Den "Onkel Wanja" von Tschechow zum Beispiel. Warum? "Weil mir der Tschechow so nahe geht." Warum? "Weil er so eine kraftvolle Melancholie hat."

Wenn ein Mensch etwas gut findet, sagt das viel über ihn selbst aus. Senta Berger hat Anthoff in dem Interview noch ein paar andere Eigenschaften zugeschrieben: "Dass er überdies ein fabelhafter, anständiger, interessierter, kritischer Mann ist, mit dem man lachen und weinen kann, dem man vertraut - das möchte ich hier ausdrücklich sagen."

"Unter Verdacht" läuft 2017 aus, weil die Polizisten-Darsteller Berger und Anthoff längst im Rentenalter angekommen sind. Am Residenztheater ist Gerd Anthoff nicht mehr, seit Dieter Dorn vor fünf Jahren gegangen ist. Er steht nicht mehr auf der Bühne. Eine neue Fernsehrolle würde er annehmen, aber nur, wenn sie ihm gefallen würde. "Ich bin ein berüchtigter Nein-Sager", sagt Anthoff.

Er macht jetzt viele Lesungen. Seit fünf Jahren liest er im Winter Weihnachtsgeschichten von Oskar Maria Graf, Bert Brecht oder Erich Kästner. Er sei bekennender Atheist, aber er liebe die Tradition Weihnachten, sagt Anthoff. Er lese "nachdenkliche Texte, die Leute berühren sollen". Die Geschichten hätten nichts mit Ochs und Esel, Maria und Josef zu tun.

Aber sie haben viel mit Anthoff zu tun.

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