Münchner Philharmoniker:Überwältigendes Paradoxon

Lesezeit: 5 min

Die Japan-Tournee der Münchner Philharmoniker mit Christian Thielemann ist eine Reise durch eine Landschaft wunder Herzen.

Egbert Tholl

Ein Schrei hallt in die Stille. 100 Minuten Bruckner sind vorüber, Dirigent und Orchester verharren in einer magischen Konzentration, spüren den gerade entfachten Emotionen nach. Da dringt aus den Tiefen einer mitgerissenen Seele, deren Inhaber irgendwo im Rang zu sitzen scheint, ein unerklärlicher Schrei. Der Schrei ist Ausdruck der höchsten Entzückung, haltloses Gefühl, und klingt, als würde sich jemand selbst entleiben, als hätte jemand jede Kontrolle über sich verloren. Ein Gurgeln, Ersticken, Herzschmerzensruf. Unheimlich.

Die Münchner Philharmoniker sind gerade mit ihrem Generalmusikdirektor Christian Thielemann auf Japan-Tournee. Und jener Schrei, den Bruckners Achte in der Across Hall in Fukuoka auslöste, könnte als akustisches Kondensat der ganzen Reise gelten. Weil diese Tournee ganz und gar ungewöhnlich ist. Weil es die erste nach dem Sommer des vergangenen Jahres ist, jenem Sommer, in dem beschlossen wurde, dass sich von nun an gerechnet in 16 Monaten die Wege der Philharmoniker und Thielemanns trennen. Weil dies, die Trennung, unfassbar schade ist, und doch unvermeidlich scheint. Und weil die Wunden dieser Trennung nach wie vor schwären; es gibt noch keine Narben, nur eine sehr dünne Kruste einer versuchten Normalität verdeckt die Verletzungen. Nach insgesamt zehn Tagen Reise hat man viel erfahren über das, was damals stattfand. Was allerdings die Wahrheit ist, das weiß man nicht. Es gibt vermutlich viele Wahrheiten. Und sie scheinen alle zu stimmen.

Als wäre die Grundkonstellation nicht schon explosiv genug, sickert in der Pause des ersten Konzerts, in Osaka, die Nachricht durch, dass Lorin Maazel einstimmig vom Stadtrat zu Thielemanns Nachfolger bestimmt wurde. 2012 tritt er an, und was eigentlich der Befriedung dienen sollte, verstärkt die Spannungen noch. Mit einem allerdings zunächst phänomenalen Ergebnis. Denn nach der Pause spielen Thielemann und die Philharmoniker die fünfte Symphonie von Beethoven. Als wollten beide Seiten demonstrieren, zu was sie fähig sind, in der Konstellation, die für sehr viele Menschen einzig und allein seligmachend schien. Vielleicht ist derzeit Thielemann in der Form seines Lebens; nimmt man diese Fünfte, dann ist es sein Orchester auch.

Mit welchem Furor, mit welcher Wucht sie Beethovens Wut exerzieren, wie das Orchester Thielemann unglaublich wach, agil und konzentriert noch in die aberwitzigsten Regionen eines mitunter völlig verstiegenen Rubatos folgen kann, wie hier jede Möglichkeit von Dynamik, Tempowechsel, solistischer Feinarbeit und umwerfender Klangschönheit ausgekostet wird, das ist wirklich frappierend. Und macht auch ein klein wenig traurig. Drei Mal spielen Thielemann und die Philharmoniker auf dieser Tournee das Programm, an dessen Ende Beethovens Fünfte steht. Die beiden folgenden Konzerte mögen ausgeglichener, noch souveräner sein. Dieses eine in Osaka ist indes von grandioser Wildheit.

Fünf Konzerte, fünf Triumphe. Zwei Mal spielen sie Bruckners Achte, bauen diese monströse Klangkathedrale, in der Thielemann den Musikern dann sehr viel Freiraum gibt. Die Konzerte wirken wie ein magische Verschwörung, selbst wenn Thielemann wie beim Konzert in Fukuoka zur Anspielprobe eine kleine Rede hält, in der er betont, er fände es sehr, sehr unglücklich, wenn Mitglieder des Orchesters mehr oder weniger unverholen ankündigten, wenn er, Thielemann, erst einmal weg sei, würden sie die ganze Wahrheit über ihn erzählen. Die ganze Wahrheit? Wessen und welche? Zunächst ist das egal. Im darauffolgenden Konzert sind die ersten zwei Sätze noch wackelig, die folgenden hauen einen um.

Zwei Mal Bruckner, drei Mal Beethoven. Zur Fünften kommen noch die Vorspiele von "Tannhäuser" und den "Meistersingern" und Brahms' Violinkonzert. Die beiden Wagner-Ouvertüren sind längst zu Markenstücken der Philharmoniker geworden; besser - vielschichtiger, transparenter, dramatischer - als hier auf dieser Tournee kann man sie nicht spielen. Gegen diese Meisterwerke klangakustischer Gefühlssteuerung fällt der Brahms ein bisschen ab; zum einen liegt das am Stück an sich, zum anderen am Solisten Vadim Repin, der ganz und gar charmant alles richtig, bis auf die Heifetz-Kadenz aber wenig absolut Zwingendes macht. So sympathisch er als Künstlererscheinung ist: Wenn man einen Konzertmeister wie Lorenz Nasturica-Herschovici hat, dieses im Leben und Spielen beeindruckende Gesamtkunstwerk eines Teufelsgeigers, dann bräuchte man eigentlich keinen Solisten mehr.

Der Vulkan explodiert

Man kann das Außerordentliche dieser Konzerte gar nicht genug beschreiben, um das bizarre Paradoxon dieser Reise erfassen zu können. Ein Teil dieses lebendigen und dabei überwältigenden Widerspruchs in sich ist Thielemann selbst. Er ist jovial, entspannt, mitunter ein echter Spaßmacher, ein Animateur seines Orchesters. Doch unter der scheinbaren Gelassenheit brodelt es. Dresden heilt auch keine Wunden, wenn sie richtig tief sind. Thielemanns Stimmungslage ist mehrheitlich gelassen, seine Pläne für Dresden machen ihm das Herz froh. Doch dann explodiert wieder der Vulkan. Man muss dazu fast gar nichts tun.

Christian Thielemann wäre künstlerisch nicht dort angelangt, wo er jetzt ist, wenn er kein aufgeschlossenes Verhältnis zur Emotionalität hätte. Das Explodieren des Vulkans mag über die Jahre einige Mitglieder des Orchesters verstört haben; plausibel indes ist es allemal. Und was da alles zum Vorschein kommt. Im Kern weiß Thielemann nach wie vor nicht, was im Sommer 2009 eigentlich passiert ist. Die viel zitierte Klausel, wonach nicht der Generalmusikdirektor über die Konzerte von Gastdirigenten zu entscheiden habe, verkommt im zeitlichen Abstand zum Spielball, zum beliebig einsetzbaren Argument. Es mag Gründe dafür gegeben haben, aber folgt man Thielemanns sehr überzeugenden und plastischen Erzählungen, dann hat er weder Dirigenten verhindert noch Aufnahmen noch Tourneen - viele Musiker sehen das völlig anders. Zu Beginn der Vertragsverhandlungen vor vielen Jahren stand fest, wann er den "Ring" in Bayreuth machen werde. Danach, von 2011 an, wären Tourneen zu den Sommerfestivals, Schaufenster der Branche, möglich. Das wussten alle, Thielemann nennt die inzwischen obsoleten Pläne für 2011 - die Philharmoniker wollen Ähnliches nun mit Maazel tun. 2012. Und Thielemann wird weiterhin fleißig Aufnahmen machen. In der Zukunft jedoch in Dresden. Alles von Bruckner, Brahms' Klavierkonzerte mit Pollini.

Vieles passt nicht zusammen. Thielemann ergänzt seine Ausführungen um das, was er mit den Philharmonikern vorhatte, Neujahrskonzert im ZDF, "Ring" in Baden-Baden, DVDs. Viele Musiker sagen, sie hätten nie das Gefühl gehabt, die Philharmoniker seien die Nummer eins für ihn gewesen. Aber wer denn sonst? Das Atmosphärische ist noch schwieriger zu greifen als es die Fakten sind, die ohnehin alle Beteiligten anders deuten. Wer wurde wann zu wem laut? Darf ein Chef nicht auch manchmal laut werden? Darf dies ein Orchestervorstand gegenüber dem Chef? Darf ein für eine Bruckner-Symphonie entscheidender Orchester-Solist für eine Aufführungsphase Urlaub beantragen, um in der fraglicher Zeit bei einem anderen Orchester zu spielen? Darf er dann beleidigt sein, wenn ihm der Urlaub nicht gewährt wird?

Im Foyer des Hotel Okura in Tokyo erzählt Thielemann - draußen hebt ein Schneesturm an. Ein Sinnbild. Vieles versteht man sehr gut in der Suada des Chefs. Nicht immer agiert das Orchester geschickt. Zu den Konzerten kommen die Musiker aufs Podium geschlurft, jeder setzt sich sofort hin, das japanische Publikum klatscht - höflicher wäre, so lange stehen zu bleiben, bis alle Musiker beisammen sind. Viele Kleinigkeiten werden auf dieser Reise diskutiert, für sich genommen Marginalien, in der Summe veritabler Sprengstoff. Nachts in der Hotelbar werden die mitreisenden Journalisten angesprochen. Aus dem Dunkel treten jene, die Thielemann gerne behalten hätten. Sie scheinen gegenüber den Wortführern und deren für sich genommenen plausiblen Argumenten in der Mehrheit. Schweigende, inzwischen jedoch murrende Mehrheit. Manche wollen sich wegbewerben, bevor Maazel kommt. Viele sind unglaublich herzliche Menschen mit wunden Herzen.

Dann wird man zurechtgewiesen, weil man im Fall Maazel nicht die hoffnungsfrohe Meinung vieler Orchestermitglieder teilt. Das ist sie wieder, die philharmonische Mischung aus Empfindlichkeit und einem hohen Bewusstsein für die eigene Großartigkeit. Eine Antwort zu Maazel: Tatsuhiko Komaki, oberster Konzertplaner des Kulturzentrums in Fukuoka, meint sehr unjapanisch direkt auf die Frage, ob er auch Maazel buchen werde: Vor 30 Jahren vielleicht, aber er sei ohnehin zu teuer. Tournee-Gagen sind Verhandlungssache, fest steht nur Maazels Honorar für seine 30 Münchner Konzerte: jeweils 36.000 Euro.

Viele Meinungen, viele Haltungen. Jeder wohnt eine gewisse Nachvollziehbarkeit inne, am stärksten jedoch dem, was Thielemann sagt. Auch, weil er am meisten sagt und am wenigsten raunt. Von allen Seiten wird beschworen, man wolle die gemeinsame Zeit hochprofessionell zu Ende bringen. Auf dem Podium gelingt dies, mit den fünf Konzerten, bei denen einem das Herz schwer wird, weil man so deutlich merkt, was zwischen Thielemann und den Münchner Philharmonikern möglich gewesen wäre, wäre der Glanz nicht versunken in einem nicht zu durchdringenden Sumpf aus Eitelkeit, Machtrausch, Sturheit und Ungelenkigkeit.

© SZ vom 3.4.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: