Münchner Momente:Tanzen mit dem Selfie-Stick

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Wer heutzutage Silvester feiert, fotografiert alles und stellt es unverzüglich ins Netz. Jeder hängt am Handy, auch an Mitternacht. Ein Gutes hat die Sache jedoch: Das leidige Anstoßen mit Champagnergläsern zum Jahreswechsel entfällt

Von Wolfgang Görl

Es ist ein Elend, in diesen Tagen Freunde zu treffen. Unabwendbar quälen sie einen mit der Frage: "Und was machst du an Silvester?" In diesem Moment ist Geistesgegenwart gefragt, damit einem auf keinen Fall die Wahrheit herausrutscht, die da lautet: "Am liebsten nichts." Auf der Stelle wäre man als Miesepeter und Silvestermuffel gebrandmarkt, selbst die ältesten Freundschaften würden umgehend gekündigt, und das restliche Leben verliefe in eisiger Einsamkeit. Also erzählt man allen, dass man das neue Jahr auf einer entlegenen Hütte in den Schweizer Alpen begrüßt, von der aus das Feuerwerk im Tal in voller Schönheit zu überblicken ist. Das klingt überzeugend nach Feierlaune und ungebremster Abenteuerlust, birgt aber die Gefahr, dass einer der Freunde auf die Idee kommt, mitfahren zu wollen. Um ihn davon abzubringen, genügt in der Regel der Hinweis, auf dem Weg zur Hütte sei eine 800 Meter hohe, senkrechte Felswand zu überwinden. Reicht dies nicht, muss man halt doch erwähnen, dass der Ortsverein der Hells Angels mit von der Partie ist. Als letzten Trumpf könnte man auch die Teilnahme Söders ins Spiel bringen.

Zugegeben, es ist moralisch nicht ganz einwandfrei, seine Freunde zu belügen, aber dafür muss man ja auch ordentlich büßen. Damit die Schwindel nicht auffliegt, ist dringend geboten, die Tage um Silvester ausschließlich in der Wohnung zu verbringen, niemals die Tür zu öffnen und auf keinen Fall Licht anzumachen. Das ist hart, aber immer noch besser, als an einem exklusiven Silvesterdinner teilzunehmen, wo man nach dem Erlebnismenü gezwungen wird, mit wildfremden Menschen zu lateinamerikanischen Rhythmen zu schwofen. Und als ob dies nicht schon lästig genug wäre, müssen Tänzer, die auf der Höhe der Zeit sein wollen, immer eine Kamera am Selfie-Stick mit sich führen, um ihren Tanz unverzüglich ins Netz zu stellen. Ein Gutes hat die Sache jedoch: Das leidige Anstoßen mit Champagnergläsern zum Jahreswechsel entfällt. Punkt null Uhr hängt jeder an seinem Handy.

© SZ vom 28.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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