Münchner Innenstadt:Geliebte Hasszone

Münchner Innenstadt: München ist in Deutschland die führende Einzelhandelsstadt, doch der Verdrängungswettbewerb unter den Händlern ist hart.

München ist in Deutschland die führende Einzelhandelsstadt, doch der Verdrängungswettbewerb unter den Händlern ist hart.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Mit der Fußgängerzone in der Münchner Innenstadt ist das so eine Sache: Man schimpft, dass es zu laut sei und zu viel Konsum gebe. Doch das war zwischen Stachus und Isartor noch nie anders.

Von Wolfgang Görl

Wer vom Stachus aus die Fußgängerzone betritt, bekommt es zu erst mit Requisiten des historischen München zu tun. Als Entree im Stil der alten Rittersleut macht sich das zinnenbestückte Karlstor breit, errichtet um das Jahr 1300, ein einst mächtiges Bollwerk, dessen trutzig-finsterer Hauptturm im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Durch das Portal verließen die mittelalterlichen Salzfuhrwerke die Stadt in Richtung Westen. Die Salztransporte zwischen Salzburg oder Reichenhall in Richtung Augsburg liefen mitten durch das mauerumringte München, von der Isarbrücke kommend übers Tal zum Schrannenplatz (heute Marienplatz) und weiter auf der Kaufinger- und Neuhauser Straße.

Seit den Zeiten Heinrichs des Löwen war diese zentrale Achse der Altstadt ein Ort des Handels, des Kaufens und Verkaufens, ein Verkehrsweg, auf dem sich Pferdefuhrwerke und Ochsenkarren stauten und auf dem links und rechts Waren angeboten wurden, um deren Preise man feilschte und stritt. Jahrhundertelang war dies die wirtschaftliche Schlagader Münchens, hier wurde Geld gescheffelt und der Reichtum der Stadt begründet. Ruhig, idyllisch war die Trasse nie.

Jeder muss vorwärts - und zwar schnell

Das behäbige, das gemütliche, das münchnerische München, die Verkörperung der sogenannten guten alten Zeit lugt von den Bögen des Karlstors in Gestalt einiger koboldartiger Männchen hervor. In Stein gemeißelt schauen von dort vier Münchner Originale auf die Passanten herab: Der Pferdehändler Franz Xaver Krenkl, der einst die Kutsche des Kronprinzen Ludwig mit dem respektlosen Spruch "Majestät, wer ko, der ko" überholt hatte; der Postillon d'Amour Joseph Huber alias "Finessensepperl", berühmt für seine Diskretion in delikatesten Angelegenheiten; der derb-lustige Hofnarr Prangerl, der letzte seiner Zunft; und der Kapellmeister Sulzbeck, der erste Münchner Volkssänger. Es ist, als machten sie sich lustig über die Menschen, die unter ihnen durch das Tor hetzen, um möglichst rasch in das gelobte Land zu gelangen, das da heißt: Fußgängerzone.

Rasch noch ein Blick auf die Gedenktafel für den Architekten Herbert Jensen, auf dessen Anregung der Stadtrat am 16. Februar 1966 beschlossen hatte, "diesen Fußgängerbereich einzurichten"; dann geht es raus aus der romantischen Welt der Hofnarren und Liebesbriefboten, hinein in die Gegenwart des alles vereinnahmenden Turbokapitalismus. Dieser präsentiert sich rechter Hand in seiner Billigvariante als Ein-Euro-Shop, wohingegen die Mobilfunkläden sowie der Elektronikmarkt Saturn auch den Besitzern besser gefüllter Portemonnaies etwas zu bieten haben, und die darüber hinaus als Beleg dienen, warum der schöne Beruf des Postillon d'Amour ausgestorben ist: Zärtliche Botschaften verschickt man heute per SMS.

Internationale Shopping-Meile

Schon beinahe ehrwürdig wirkt im Vergleich dazu die gegenüberliegende Fassade des Kaufhauses Oberpollinger, ein Werk des Architekten Max Littmann, das die hanseatische Kaufmannsfamilie Emden & Söhne im Jahr 1905 eröffnet hatte. Auf die Gründer sowie deren weltumspannenden Fernhandel verweisen die Hamburgischen Koggen auf den Giebeln des Gebäudes. Man wüsste gerne, was der Stadtführer einer chinesischen Reisegruppe, die gerade vor dem Kaufhaus steht, über die stolzen Segelschiffe erzählt. Vielleicht sagt er seinen Leuten, mit solchen Kähnen seien die Handelsleute früher die Isar auf und ab gesegelt, um die Stadt mit Waren zu versorgen. Vielleicht aber sagt er auch die Wahrheit. Wer weiß? Man versteht ja kein Wort.

Es ist ein sonniger Werktag, ein paar Büromenschen vor dem unentwegt plätschernden "Brunnenbuberl" genießen, an Leberkässemmeln kauend, die Mittagspause, während junge amerikanische Touristinnen in Shorts einen Kiosk nach Postkarten absuchen. Unter den Sonnenschirmen vorm "Schnitzelwirt" haben es sich einige Herrschaften mit Strohhüten gemütlich gemacht, daneben eine arabische Familie, die Frauen im Schador, sowie zwei dicke Amerikaner, für die es eine Speisekarte auf Englisch gibt. Man muss den Wirt loben für seine Bemühungen, ausländische Gäste über hiesige Spezialitäten aufzuklären. Auch der Einheimische profitiert davon, endlich kann er nachlesen, was der "Münchner Wurstsalat" eigentlich enthält: "Munich-style sausage slices dressed with vinegar and oil and served with sliced red onion and fresh artisan bread."

Flaneure sieht man selten

Als Nachweis seiner Weltläufigkeit und seiner ästhetischen Kompetenz ist der Münchner geradezu verpflichtet, die Fußgängerzone als komplett missraten, als abscheuliche und mit Betonblumentrögen nebst Straßenlampen im Stil der guten Stube zugestellte Manifestation peinlichster Spießigkeit zu betrachten. Damit kann man beim Partygeplauder immer punkten, und in der Regel fragt niemand nach, ob mit so einem dröhnend schlichten Urteil tatsächlich alles gesagt ist, was es zur nicht ganz so schlichten Wirklichkeit der Fußgängerzone zu sagen gäbe.

Wäre es etwa völlig undenkbar, die wie zwei übereinander schwebende Blubberblasen gestalteten Lampen als ästhetische Reminiszenz an die 1970er Jahre zu nehmen, so wie die Mariensäule für das 17. Jahrhundert steht? Und wo fände man eine eindrucksvollere Biertempel-Architektur als die des Augustiner, dessen Jugendstil-Pracht die passende Kulisse ist, um bei einem Bier im Freien die Passanten zu beobachten?

Getriebene in den Häuserschluchten

Was dabei sofort auffällt: Es gibt hier kaum Flaneure. So gut wie niemand bummelt ziellos durch die Fußgängerzone, verweilt genießerisch vor den Schaufenstern oder verliert sich in kulturphilosophischen Gedanken, inspiriert von der Eleganz der vorbeistöckelnden Damen. Irgendwie ist hier jeder in Eile, stets muss es vorwärts gehen, möglichst schnell, und an Samstagen kann man schon mal das Gefühl haben, als gehörte man zu einer Schafherde, die durch die Häuserschluchten getrieben werde, während eine Ziegenherde in entgegengesetzter Richtung zu den Weidegründen trabt. Wie anders ist dagegen die Maximilianstraße: Sie ist auch für Menschen gemacht, die nur schauen wollen. Ein klassischer Boulevard. In der Fußgängerzone aber geht es ums Kaufen, ums Shoppen. Es geht um die Beute, die man in möglichst vielen und großen Einkaufstüten wie ein erfolgreicher Jäger nach Hause trägt.

Vieles davon könnte man auch woanders ergattern, die Geschäfte und Waren, die es nur in München gibt und nirgendwo sonst, werden auch hier immer weniger. Kaum hat wieder ein traditioneller Laden vor den horrenden Mieten kapituliert, da besetzt schon eine der großen internationalen Ketten die frei gewordenen Räume. Was Wunder, dass sich nach der zweiten Halbe im Augustiner eine Vision einstellt: Eines Tages wird es auf der Nordseite der Kaufingerstraße nur noch H&M-Shops geben, die Südseite wird allein den Parfümerie-Konzernen vorbehalten sein, und wer durch die Theatinerstraße wandert, wird links ausschließlich Zara-Boutiquen vorfinden und rechts die internationale Mobilfunkbranche.

Angesichts dessen ist man froh, ein alteingesessenes Geschäft wie den Andenkenladen "Max Krug" zu besuchen, der mit den Worten "Cuckoo Clock Specialist since 1926" auf seiner Markise wirbt. Kuckucksuhren, sagt Verkäuferin Joan Zuil, werden gerne von Chinesen gekauft, für die München und der Schwarzwald wohl auch nicht so weit auseinanderliegen. Für Kaviarpokale oder Preziosen wie das elegant geschwungene Trinkhorn mit silbernem Wildschwein-Deckel zu 2250 Euro begeistern sich eher die Russen. Nur wer kleinlich denkt, betrachtet diese Dinge nicht als authentische Souvenirs aus der bayerischen Landeshauptstadt. Mögen die Münchner selbst nur selten aus so einem wildschweingekrönten Horn trinken - der darin verkörperte Hang zur Repräsentanz ist in jedem Fall typisch münchnerisch.

Nur wenige Traditionsgeschäfte halten sich

Auch der Hofjuwelier Carl Thomass am Marienplatz gehört zu den wenigen alten Geschäften, die sich bis heute gehalten haben. Erich Jocher hat 1961 in dem exquisiten Schmuckladen als Werkstattleiter angefangen, mittlerweile ist er der Inhaber. "Die Zeiten haben sich geändert", sagt er, es sei unruhiger geworden rund um den Marienplatz. Mal sind es die ewigen Baustellen, die das Terrain ungemütlich machen, mal ist es eine der vielen Protestkundgebungen, "bei der sie zum Beispiel für die Freiheit von Grönland demonstrieren". Klagen über mangelnden Umsatz gehen Jocher dennoch nicht über die Lippen, auch weil er eine treue Stammkundschaft aus München und dem Umland hat.

Und waren bis in die Siebzigerjahre die Amerikaner die besten Kunden, sind es heute neben deutschen Touristen die Russen, die sich ein Schmuckstück genehmigen. Als Jocher anfing, zwängten sich noch Trambahnen und Autos durch die Kaufinger Straße, auch damals kein ruhiges Pflaster. Was dem Juwelier gar nicht gefällt, ist die zunehmende Dominanz der großen Ketten: "Es ist schade, weil das individuelle Angebot verloren geht. Von Kapstadt bis Helsinki gibt's dann nur noch dasselbe."

Jeder kann seine Weltanschauung kundtun

Vor der Alten Akademie steht am Nachmittag eine Bühne, und von dieser wettert der Rechtspopulist Michael Stürzenberger gegen den Islam. Er ist der Chef der Islamhasser-Partei "Die Freiheit", und wer von den Grüppchen, die sich bald um die von Polizisten abgeschirmte Bühne scharen, noch nie von ihm gehört hat, erfährt umgehend, in welcher Ecke der hampelnde Mann angesiedelt ist.

Es ist ein bizarres Schauspiel. Wenn es dabei etwas Erfreuliches gibt, dann sind es die jungen Leute mit Migrationshintergrund, die dem Islamhasser Paroli bieten, ohne ihm auf den Leim zu gehen. In diesem Moment ist die Fußgängerzone mal nicht die riesige Verkaufsfläche, auf der es nur um den Profit geht. Da verteidigen Menschen die Toleranz und das Recht, anders zu sein. Und so verwandelt sich der Marktplatz in ein Forum, auf dem die großen Fragen zur Sprache kommen - und sei es nur als spontan formulierter Widerspruch gegen Intoleranz und Hass.

Tatsächlich, die Wirklichkeit ist komplizierter, selbst die Wirklichkeit der Fußgängerzone. Jenseits der Shopping-Welt gibt es doch noch etwas anderes: Menschen, die ihre Weltanschauung hinausposaunen, mal im Geiste des Humanismus, mal als Ressentiment. Da sind die komischen Heiligen, die ein sittenstrenges Leben predigen, da sind aber auch die Gläubigen, die mittags während der Messe in der Bürgersaalkirche stille Einkehr halten; da sind die Straßenmusiker, die mitunter so gut sind wie ihre Kollegen im Konzertsaal, und da ist die Gedenktafel für den Schriftsteller Gottfried Keller, der 1840 in der Neuhauser Straße gewohnt hatte. Über München hat er seinerzeit gedichtet: "Ein liederliches, sittenloses Nest/Voll Fanatismus, Grobheit, Kälbertreiber,/Voll Heil'genbilder, Knödel, Radiweiber ..."

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