Münchens Wirtschaftsgeschichte: Stadt des Wachstums:Wenn sich Erde in Gold verwandelt

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst München in rasendem Tempo und erlebt einen gewaltigen Bauboom. Davon profitieren die "Loambarone", deren Ziegeleien das Material für die überall aus dem Boden wachsenden Häuser liefern. Die Arbeiter in den Fabriken aber leben im Elend

Von Stefan Mühleisen

Lorenz Hartl lässt nichts anbrennen, als es darum geht, die Goldene Hochzeit mit seiner Ursula zu feiern. Ein Foto von 1902 zeigt die Jubilare fidel posierend auf der Treppe vor der Villa in Engelschalking, umringt von zwei Dutzend Familienangehörigen in Frack und Rüschenkleid. Danach bringen Kutschen die Gesellschaft in die Betz'sche Wirtschaft nach Bogenhausen, wo sieben Gänge aufgefahren werden: Forellen, Filetbraten, Junghuhn, Rehrücken sowie "Eis in Figuren", wie aus der Familienchronik hervorgeht.

Hartl und sein Clan lassen es wieder einmal krachen, so wie die anderen "Loambarone" auch. So nennen die Zeitgenossen die Ziegeleiunternehmer, jene aufstrebenden Großbürger, die im jungen Deutschen Reich München von Grund auf umkrempeln und dabei steinreich werden. Vier Jahre davor legt ein Sozialreport offen, zu welchem Preis das geschieht.

Der Verfasser beschreibt, wie 15 bis 20 Arbeiter in einer Ziegelei im Münchner Osten zusammengepfercht in einem Trockenraum leben, der Hitze des Ziegelofens ungeschützt ausgesetzt. "Die Bettwäsche starrte vor Schmutz", heißt es, sei obendrein zerrissen, mithin nur ungenügend vorhanden. In einem anderen Raum schlafen zehn Personen. "Auch hier überall der gleiche Schmutz, die gleiche Verwahrlosung."

Der Pomp der Loambarone und die Armut der Arbeiter - es sind zwei extreme Pole einer extremen Zeit, in der München in rasend schnellem Tempo zur Metropole wächst. Von der Reichsgründung 1871 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wird die Kapitale an der Isar mit voller Wucht von der sich Bahn brechenden Industrialisierung erfasst - und sie katapultiert die Bauwirtschaft zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige. Immer mehr Menschen drängen in die Stadt - und es braucht Unternehmer, die für das Heer der Zuwanderer ein Häusermeer errichten. "In dieser Zeit wurde München zu einer modernen Großstadt ausgebaut", sagt Manfred Heimers, als Historiker und Archivar beim Stadtarchiv zuständig für die Münchner Baugeschichte.

Die neue Epoche kommt bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ins Rollen. Allerorten drängen Industrie und Handel die Landwirtschaft in den Hintergrund; Eisenbahnen schnaufen durchs Land und bringen immer mehr Menschen zu ihrem Sehnsuchtsort: die Stadt. Die Münchner Kernstadt wird bald zu klein, bereits 1854 werden die Au, Giesing und Haidhausen eingemeindet, 1864 folgt Ramersdorf. Doch erst mit der Einführung der Gewerbefreiheit 1868 sollte die Expansion der Stadt so richtig Fahrt aufnehmen. Von 1871 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs vervierfacht sich die Bevölkerung auf 600 000 Menschen. Die Bauwirtschaft darf dabei zunächst nahezu ungehindert schalten und walten. "Die Unternehmer konnten weitgehend planen, wie sie wollten", sagt Historiker Heimers. Und das tun sie auch. Es herrscht Goldgräberstimmung. Zumal die Goldgruben direkt vor der Haustür liegen: die ausgedehnten Lehmgründe.

Die letzte Eiszeit hat auf 16 Kilometern von Haidhausen, Berg am Laim und Ramersdorf sowie von Bogenhausen und Unterföhring bis Ismaning eine bis zu drei Kilometer breite Lehmschicht hinterlassen. Die Ausbeutung des robusten Baumaterials hat eine lange Tradition. Nun erkennen findige Maurer, Ziegelmeister, Glücksritter und geldige Erben, dass sich hier Erde in Gold verwandeln lässt. Sie kaufen den Bauern ihr Land ab, um den Boden "abzuziegeln", wie es damals genannt wird.

Märkte, Münzen und Maschinen

Münchens Wirtschaftsgeschichte

Folge 6

Bald rauchen die Schlote in gut 60 Ziegeleien - in Haidhausen, in Berg am Laim, in Oberföhring - ohne Unterlass. Allein die Aktien-Ziegelei in Zamdorf verfeuert 2700 Zentner Kohle im Jahr - bei einem Ausstoß von neun Millionen Steinen jährlich. Die Stadt ist erfüllt von Hämmern, Dengeln, Klopfen. "Ohne Lehm dat's München net geb'n", lautet das Sprichwort der Stunde, das sicher auch Lorenz Hartl gerne gebraucht - einer jener Loambarone, denen der Bauboom den Aufstieg ins Großbürgertum ermöglicht.

Seine Vorfahren hatten sich als Hirten, Gürtler und Pechsieder verdingt. Er selbst wächst in ärmlichen Verhältnissen als siebtes Kind einer Bauernfamilie in Beyharting (heute Landkreis Rosenheim) auf. Mit seinem Erbteil kann er einen Hof kaufen - und wieder abstoßen. Er hat jetzt das Startkapital, wobei ihm die Verwandtschaft hilft. Der Vater seiner Frau Ursula besitzt eine Ziegelei in Baumkirchen. Nach Jahren als Ziegelmeister in dem Betrieb schlägt Lorenz Hartl 1880 zu: Er kauft im benachbarten Englschalking Lehmgründe, errichtet eine Ziegelei, drei Trockenstädel, Stallungen, eine Kantine für die Arbeiter - und für sich und die Familie eine Villa.

Hartl und Kollegen liefern den Rohstoff für eine nach Nachschub lechzende Branche. Häuser schießen aus dem Boden, die neuen Blöcke fressen sich etwa in Haidhausen in den alten Baubestand der Herbergen. Die Gemeindeverwaltungen werden buchstäblich von der Entwicklung überrollt - und bitten um Eingemeindung: Sendling (1877), Neuhausen und Schwabing (1890), Bogenhausen (1892), Nymphenburg (1899) sowie Thalkirchen und Laim werden München einverleibt.

In den Ziegeleien fertigen die Tondrescher - sie pressen den Lehm in eine Passform - am Tag bis zu 4000 Ziegel, die dann in einem 2000 Grad heißen Ofen gebacken werden. Alles muss schnell gehen, schließlich wird im Akkord gearbeitet. Bald reichen die einheimischen Arbeiter nicht mehr aus: Die Unternehmer werben Saisonarbeiter aus Italien an, meist aus dem Friaul und Bergamo. Viele nehmen dafür zehntägige Gewaltmärsche über die Alpen in Kauf, darunter viele Kinder.

Sie gelangen in die Mühlen eines entfesselten Kapitalismus, der keine Rücksicht kennt. Das ist auch dem städtischen Magistrat klar. In einem Bericht an die Schulkommission vom April 1885 heißt es: "Wie im Vorjahr sieht man jetzt wieder in den Straßen der Vorstadt Haidhausen eine Menge italienischer Arbeiter durchziehen, die auf den Ziegeleien der Nachbarschaft Arbeit suchen und finden. Darunter sind Knaben, dem Anschein nach von 11 - 14 Jahren, schmächtige, blasse, halb verhungerte Gestalten, in der dürftigen Kleidung, meistens barfuß. Die Jungen leben in einer Art Sklaverei." Zum Stadtbild gehören in dieser Zeit auch die "Mörtelweiber", Gelegenheitsarbeiterinnen in dicken, langen Röcken und kalkzerfressenen Blusen. Sie rühren den Mörtel und schleppen die schwere Last zu den Maurern auf die Baustellen.

Indes sind einige Ziegelgründe bald abgeziegelt - und mutieren zu "Bauerwartungsland": Grundstücke, um die sich die Spekulanten reißen. Je näher die Randgebiete rücken, desto kostbarer werden auch Grund und Boden. Als Hochphase des Münchner Immobilienmarkts gilt die Zeit zwischen 1893 und 1901. Die Preise klettern in derartige Höhen, dass Bauherren Grundstücke meist nur auf Pump kaufen können. Die Banken gewähren bereitwillig Kredite, was die Preise noch mehr steigert.

Als mächtigste Akteure auf diesem umkämpften Markt etablieren sich die sogenannten Terraingesellschaften: Als AG oder GmbH kaufen sie Grundstücke, "Terrain", parzellieren diese in Baufelder und verkaufen sie wieder; nach 1900 treten sie auch vermehrt selbst als Bauherr auf. Branchenführer in ganz Bayern wird die Aktien-Ziegelei, eine frühe Form des Konsortiums. Dabei fusioniert die Ziegelei mit der Bayerischen Baugesellschaft sowie der Bayerischen Handelsbank und der Bayerischen Vereinsbank München. Damit sind Ziegelproduktion, Bauunternehmen und Kapitalgeber unter einem Dach vereint. 1910 besitzen die Terraingesellschaften im Stadtgebiet und den Vororten 650 Hektar Land, die Stadt dagegen nur 575 Hektar.

Die Stadt wächst und wächst, von 61 000 Wohnungen (1885) auf 137 000 Wohnungen im Jahr 1905. Dennoch herrscht eklatanter Mangel. Viele Häuser sind hoffnungslos überbelegt. Nicht selten hausen vier Personen in einem Raum; sieben oder mehr teilen sich zwei Räume, geschlafen wird in Schichten. Dabei gibt es auf dem Markt jede Menge großer, aber teurer Wohnungen; Kleinraumwohnungen für wenig solvente Arbeiterfamilien gibt es viel zu wenig - zu unlukrativ für die Baugesellschaften.

Hier schließt sich der Kreis zur auch in heutiger Zeit stetig wachsenden Metropole München, in der sich immer weniger Menschen die horrenden Mieten leisten können. "Die Situation ist durchaus vergleichbar", sagt Historiker Manfred Heimers. Damals wie heute würden Investoren vor allem Wohnungen für die gehobenen Ansprüche der Oberschicht bauen. "Gebraucht werden aber vor allem preiswerte Wohnungen für einfache Leute."

In der nächsten Folge am Samstag: Die Kirche und der schnöde Mammon

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: