Münchens Alt-OB:Hans-Jochen Vogel: Der Kardinal der SPD wird 90

Hans-Jochen Vogel, 2011

"Es gilt das gesprochene Wort": Sechstausend Reden hat Hans-Jochen Vogel als Politiker gehalten, viele davon haben seine Partei geprägt. An den Schluss seines Parlamentarierlebens setzte er das Zitat eines anderen Sozialdemokraten.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Er hat seine Partei geprägt wie kaum ein anderer. Doch eine Entscheidung quält den ehemaligen Bundesjustizminister bis heute.

Von Heribert Prantl

Das erste Geburtstags-Ständchen für Hans-Jochen Vogel wurde eine Woche zu früh gesungen; es war ein ganzer Saal voller Menschen, der da sang. Aber wenn man neunzig wird, kommt es vielleicht auf eine Woche hin oder her auch nicht mehr an, selbst nicht bei einem, der bekannt dafür ist, dass er es sehr genau nimmt.

Der Verleger Manuel Herder, ein schlaksiger Herr, stand also auf der Bühne des Festsaals des Münchner Künstlerhauses am Lenbachplatz, er hatte soeben ein paar rühmende Worte gesagt über das neue Buch Vogels, das an dem Abend vorgestellt wurde; und nun teilte er das Buchpremierenpublikum, zum Zwecke eines vorweggenommenen Geburtstagskanons, flugs in drei Gruppen ein - "Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen".

Die SPD, fordert Vogel, muss mehr von ihren Erfolgen reden

Der weißhaarige Jubilar in der ersten Reihe ließ "Gesundheit und Frohsinn" angerührt über sich ergehen, neigte den Kopf und dachte womöglich an seine Anfangsjahre als Münchner Oberbürgermeister - als er, es war 1961, das kriegszerstörte, nun wieder renovierte Künstlerhaus eröffnet hatte, in dem er jetzt, 55 Jahre später, sein Buch vorstellte.

Das Buch heißt "Es gilt das gesprochene Wort", es vereint eine kleine Auswahl aus den sechstausend Reden, die der Jubilar als Politiker gehalten und nun jeweils mit einer Einleitung aus heutiger Perspektive versehen hat.

Hans-Jochen Vogel im Prachtsaal des Künstlerhauses. Er sitzt in der ersten Reihe wie in einem Chorgestühl, ein alter Kardinal im Kreise seiner Mitbrüder, ein wenig in sich zusammengesunken. Aber dann ein Ruck, den Gehstock fest gepackt. Wenn Vogel sich aufrichtet, wenn er auf die Bühne steigt, dann ist er nicht einfach "rüstig", wie man das von einem alten Herrn so gefällig zu sagen pflegt, dann ist er stattlich, und seine Rede ist kraftvoll und hat etwas von einer brausenden Orgel: "Herrgott noch mal" - ruft er ins Publikum, als er gefragt wird, warum die SPD denn heute in der Wählergunst so bescheiden dastehe.

Dieses "Herrgott noch mal" ist ein klagender, fast anklagender Ausruf über den "sonderbaren Widerspruch" zwischen den mickrigen SPD-Prozenten in den Umfragen und dem Faktum, dass die SPD "so viel von ihrem Wahlprogramm durchgesetzt" habe. Die SPD, sagt er, müsse mehr von ihren Erfolgen reden und mehr von ihrer Geschichte. Hans-Jochen Vogel tut es: Er redet vom 23. März 1933, als die Sozialdemokraten Hitlers Ermächtigungsgesetz ablehnten, er redet von der 150-jährigen Geschichte der SPD, er redet in wohldosierter Rage. Vogel sei wie ein Vulkan, haben seine Mitarbeiter einst in seinen Wahlkampfzeiten gesagt. Man hört warum; er ist nicht erloschen. Mit neunzig ist er ein wohltemperierter Vulkan.

Eine rot-rote Koalition? Unter gewissen Voraussetzungen kein Problem

Erinnerungsselig? Im kleinen Kreis kann Vogel das sein. Auf der Bühne denkt er mindestens so gern nach vorn wie zurück. Ob es nicht endlich Zeit sei für eine Koalition der SPD mit der Linken? Der Ehrenvorsitzende der SPD darauf: "Wer ist die Linke? Welche Linke?" Wenn sie so wäre wie Bodo Ramelow in Thüringen - dann hätte er kein Problem mit einer rot-roten-Koalition.

Aber solange die Linke "mit der Unterstützung eines von mir nicht genannten Herrn" agiert . . . den Namen Lafontaine mag er nicht in den Mund nehmen. In der Festschrift zu Vogels 70. Geburtstag hatte Oskar Lafontaine als damaliger SPD-Vorsitzender und Nach-Nachfolger von Vogel einen Beitrag geschrieben. Diese Festschrift trägt den Titel "Gestalten und Dienen". Vogel wirft seinem einstigen Nach-Nachfolger und jetzigen Politiker der Linken vor, dass er das Dienen verachte.

Gestalten und Dienen. Ein Buchmotto, ein Lebensmotto. Die meisten Politiker absolvieren in ihrem politischen Leben erst die Ochserei und die Pflicht, dann die Kür. Bei Vogel war es umgekehrt: Er begann mit der Kür, dann kam die Pflicht.

Die Ermordung Schleyers geht ihm bis heute nahe

Er begann sein politisches Leben mit der Kür in München, dann kamen die Jahre der Pflicht in Bonn und Berlin. Mit 34 Jahren wurde er 1962 zum Münchner Oberbürgermeister gewählt, er baute die U- und S-Bahn, raufte mit den Jungsozialisten, bescherte der Stadt die Fußgängerzone, holte die Olympischen Spiele in die Stadt.

Nach seinen zwölf fetten Jahren als unglaublich beliebter OB (4444 Tage waren es, hat jemand ausgerechnet, wahrscheinlich er selbst) kamen 22 bisweilen recht dürre Jahre - als Landes- und Bundespolitiker: als Chef der ewig schwächelnden bayerischen SPD, als Bundeswohnungs- und Bundesjustizminister, als kurzzeitiger Regierender Bürgermeister Berlins, als erfolgloser Kanzlerkandidat gegen Helmut Kohl 1983, als langjähriger Oppositionschef im Bundestag und als SPD-Vorsitzender, Nachfolger von Willy Brandt.

Was war seine schwerste Entscheidung? Vogel wird sehr ernst, wenn diese Frage kommt; sie führt in den sogenannten Deutschen Herbst: Die Schutzfähigkeit des Staats war 1977 in ungeheurer Weise herausgefordert, als der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt worden war. Der Große Krisenstab trat zusammen und musste sich Gedanken darüber machen, ob man den Erpressungen der RAF nachgeben kann, nachgeben soll, nachgeben muss, nachgeben darf - um so das Leben Schleyers zu retten.

"Man erfährt in einer solchen Situation die eigene Endlichkeit"

Vogel war damals Bundesjustizminister. Er hat die Entscheidung mitgetragen, den Erpressern nicht nachzugeben und damit den Tod Schleyers in Kauf zu nehmen. Diese Entscheidung geht ihm nach, er steht dazu; sie quält ihn trotzdem.

Horst Herold, der damalige Chef des Bundeskriminalamts, hat einmal bekannt, ihm sitze in vielen Nächten der tote Schleyer auf der Brust. Vogel ist ein gläubiger Katholik, er glaubt an "die Vorstellung von einem allmächtigen, aber auch barmherzigen und gnädigen Gott" - er nennt das den archimedischen Punkt in seinem Leben. "Man erfährt in einer solchen Situation wie damals die Einsicht in die eigene Begrenztheit, die eigene Endlichkeit", sagt er; "man erlebt aber auch das stärkende Gefühl, das sich einstellt, wenn man glaubt, das Äußerste getan zu haben und dann die weitere Entwicklung in die Hand des Herrgotts legen zu können."

In dem Maß, in dem sich Vogel aus den politischen und gesellschaftlichen Gremien zurückgezogen hat (die letzten waren die Ethik-Kommission, und die Stiftung "Erinnerung. Verantwortung. Zukunft" sowie die Vereinigung "Gegen Vergessen - für Demokratie"), wurden ihm die allerletzten Dinge wichtig. Auch deshalb redet er gern vom "Herrgott".

Vogel wäre ein guter Kanzler geworden; er musste anderes tun

Immer wenn es schwierig wurde für die Sozialdemokratie, immer wenn sie sich in aussichtsloser Lage respektabel schlagen musste, immer dann rief sie nach Vogel. Und der schlug sich immer respektabel, unter Aufbietung seiner altväterlichen Tugenden, über die und unter denen die Genossen oft auch ein wenig stöhnten. "Trotz alledem. Weiterarbeiten und nicht verzweifeln!" - den Zettel, den Herbert Wehner ihm 1981 zugesteckt hatte, trug er viele Jahre in der Brieftasche mit sich herum. Eine Kopie davon hat er bisweilen an Genossen verschenkt, die es gerade schwer hatten.

Vogel arbeitete mit ungeheurem Fleiß, mit pedantischer Lust, mit bürokratischer Genialität und elitärem Anspruch. Er brachte manchmal gestandene Abteilungsleiter und Staatssekretäre zum Weinen, weil sie seinem Tempo, seiner Arbeitswut und seinem Wissensdurst nicht gewachsen waren. Seine Referenten rief er auch mitten in der Nacht an, um sie zu fragen, wo er ein bestimmtes Papier finden könne. Vogel wäre, so heißt es mit Recht, ein guter Kanzler geworden. Er musste anderes tun; er hat seine Partei nach der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt in die Opposition führen und dort regenerieren müssen.

Früher galt er als "Oberlehrer"

Der Jurist Vogel galt sein politisches Leben lang als "Oberlehrer", als der Lehrer Lämpel unter den deutschen Politikern, als einer, der gern mit dem Zeigefinger spricht. Wenn er heute spricht, tut er es nicht mehr mit gestrecktem Zeigefinger; der Finger ist milder geworden, gerundet, aber nicht geknickt. Und mit diesem Gestus spricht er über die Beziehungen zu Russland, über Entspannungspolitik: "Mit Putin muss geredet werden", mahnt er, weil es Sicherheit "nur miteinander gibt, nicht gegeneinander".

Mit öffentlichem Rat hielt Vogel nach seinem Ausscheiden zurück

Je älter Vogel wurde, umso aufgeschlossener, liberaler und offener wurde er. Auf die Grünen blickte er bisweilen so, wie ein Großvater auf seine Enkel blickt. Der ältere Vogel hätte es mit den Grünen in der rot-grünen Koalition wohl besser gekonnt als Gerhard Schröder, der Kanzler der rot-grünen Koalition. Aber da war Vogel schon längst aus dem Bundestag ausgeschieden und mit öffentlichem Rat sehr zurückhaltend.

"Das gehört sich nicht", sagt er. Das sagt er oft, wenn um Stilfragen geht. Es gehört sich aber, darauf achtet Vogel sehr, dass ihm jeder Spitzengenosse und SPD-Vorsitzende, der nach München kommt, seine Aufwartung macht. Dann, beim intimen Gespräch, hält Vogel mit Ratschlägen nicht hinter dem Berg; öffentlich hält er sich zurück.

Vogels Akkuratesse galt und gilt nicht nur den Akten . Genauso akribisch war und ist sein Verzicht auch auf die kleinste Vorteilsnahme. Sein Leben lang ist er nie in der Business-Klasse geflogen, sondern immer, wie normale Menschen eben, in der Economy-Holzklasse.

Manche sprachen ihm trotz seiner Bescheidenheit Selbstgefälligkeit zu

Wenn er dann im Flugzeug an seinen Bundestagskollegen im vorderen Teil des Flugzeugs vorbeiging, wünschte er ihnen jovial und betont laut einen "guten Flug". Er genoss das so, wie er es als Münchner Oberbürgermeister genossen hat, mit der Straßenbahn zum Rathaus zu fahren. Und als er 1981 als Notkandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters nach Berlin gerufen wurde, ignorierte er am Flughafen den Dienstwagen, marschierte an den verblüfften Genossen vorbei mit einem ruppigen "Entschuldigung! Das steht mir noch nicht zu!" - und winkte einem Taxi.

"Selbstgefälligkeit in der Bescheidenheit" hat ihm die Frankfurter Allgemeine Zeitung deswegen einmal attestiert. Man sieht: Politiker können es den Leuten kaum recht machen. Aber mehr von dieser Vogel'schen Art der Selbstgefälligkeit hätte der deutschen Politik auch nicht gerade geschadet.

Sein Leben hatte und hat Struktur - und die Lebensordnung beginnt mit der Tagesordnung; das ist auch noch so, seitdem er vor zehn Jahren, seiner Frau Liselotte zuliebe, mit ihr ins Altenheim, ins Augustinum im Münchner Südwesten gezogen ist, weil sie die Treppen zu seiner schönen Altstadtwohnung nicht mehr hinaufsteigen konnte.

Der Luxus des Alters: Erst um sieben Uhr frühstücken

Die Stadtwohnung und das geliebte Haus in Niederbayern haben die beiden aufgegeben. Drei Zimmer, komfortabel. Dort sitzt der Hausherr immer noch täglich am Schreibtisch, oft im Dreiteiler, schreibt Briefe. Jetzt frühstückt er allerdings nicht mehr zu nachtschlafender Zeit, sondern viel später - gegen sieben Uhr; das ist für ihn der Luxus des Alters.

Seine Abschiedsrede im Bundestag hielt er am 30. Juni 1994, und der letzte Satz war wie ein kleines Testament: "Allen, die ihre Arbeit fortsetzen, wünsche ich, dass sie dem gerecht werden, was Adolf Arndt, einer der großen Parlamentarier der Nachkriegszeit, so ausgedrückt hat: 'Die Wahrheit seiner Antwort kann kein Politiker verbürgen, wohl aber die Wahrhaftigkeit des Fragens und des immer neuen, unermüdlichen Bemühens.'"

Es ist bezeichnend für Hans-Jochen Vogel, dass er an den Schluss seines Parlamentarierlebens sich nicht selbst, sondern ein Zitat eines anderen Sozialdemokraten gesetzt hat. Das Protokoll verzeichnet lang anhaltenden Beifall. An diesem Mittwoch feiert Hans-Jochen Vogel seinen 90. Geburtstag.

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