Prozess gegen John Demjanjuk:Der mühsame Weg zur Wahrheit

Ein Gewirr von historischen Fakten und Thesen: Seit Monaten läuft in München der Prozess gegen John Demjanjuk, den mutmaßlichen KZ-Wachmann von Sobibor. Es geht um den Mord an 27.900 Juden.

Robert Probst

Das Grauen der ersten Tage ist längst einer fast monotonen Routine gewichen. Viele der mehr als zwanzig Nebenkläger hatten im Dezember in bewegenden Worten vom Schicksal ihrer Familien berichtet, die in den Gaskammern der Nazis im besetzten Polen umgebracht worden waren.

John Demjanjuk

Ankunft im Gerichtssaal: John Demjanjuk verfolgt die Verhandlung jedoch stets liegend und meist reglos auf einem Bett neben der Richterbank und würdigt die Richter keines Blickes. Jedes Wort des Prozesses wird für ihn simultan ins Ukrainische übersetzt. Jüngst beschwerte sich der 90-Jährige höflich, aber bestimmt beim medizinischen Gutachter Albrecht Stein. Er wolle künftig wieder mit einem besser gefederten Sanitätswagen ins Gericht gebracht werden.

(Foto: AP)

Im Saal A101 des Münchner Justizzentrums wird nun seit neun Monaten und 50 Verhandlungstagen gegen den mutmaßlichen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, 90, verhandelt. Der Vorwurf lautet auf Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden in den dortigen Gaskammern. Es ist einer der spektakulärsten NS-Prozesse der deutschen Rechtsgeschichte. Doch im Verhandlungsalltag fühlen sich Prozessbeobachter seit langem eher wie in einem historischen Seminar; Wissenschaftler sprechen über Frontverläufe, Statistiken, Dokumente und Archivbestände.

Die Erste Strafkammer am Landgericht München II steht vor einer großen Herausforderung. In einem aufwendigen Indizienprozess soll geklärt werden, wo der Angeklagte während des Zweiten Weltkriegs vor 67 Jahren war und was er damals gemacht hat. Demjanjuk schweigt dazu - und so gilt es, mühevoll Detail für Detail zusammenzutragen.

Der gebürtige Ukrainer, spätere US-Bürger und nun staatenlose John Demjanjuk ist seit Jahrzehnten ein bekannter Mann - er wurde Ende der 1980er Jahre in Israel bereits zum Tode verurteilt als "Iwan der Schreckliche" im Vernichtungslager Treblinka. Als sich das als Irrtum herausstellte, wurde er begnadigt. Doch die Ermittler gaben nicht auf. Demjanjuk selbst sieht es so: Seit mehr als 30 Jahren werde er "verfolgt" vom US-Justizministerium und den dahinterstehenden Kreisen wie dem Jewish World Congress oder dem Simon-Wiesenthal-Center. Eine entsprechende Erklärung trug sein Verteidiger Ulrich Busch vor. Einigkeit herrscht nur in einem Punkt: Iwan Demjanjuk war als Rotarmist 1942 im Alter von 22 Jahren in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten.

Von diesem Zeitpunkt an freilich gibt es unterschiedliche Geschichten. Demjanjuk, so hatte er es einst beschrieben, will von Juni 1942 bis Oktober 1944 im Kriegsgefangenenlager Chelm von der Wehrmacht festgehalten worden sein. Später habe er sich der Wlassow-Armee, die auf deutscher Seite gegen die Sowjets kämpfen sollte, angeschlossen. Laut Anklage jedoch ließ sich Demjanjuk in Chelm für die SS anwerben und wurde im polnischen Ort Trawniki als "fremdvölkischer Hilfswilliger" ausgebildet, um anschließend von Ende März bis Ende September 1943 im Vernichtungslager Sobibor als Wachmann zu arbeiten. Dies soll ein Dienstausweis mit der Nummer 1393 beweisen, auf dem die "Abkommandierung nach Sobibor" vermerkt ist. Danach soll der Ukrainer im KZ Flossenbürg ebenfalls als Wachmann eingesetzt worden sein.

Lebende Zeugen für die Zeit in Sobibor gibt es nicht - und so konzentriert sich das Landgericht im Verfahren darauf, das Alibi des Angeklagten zu hinterfragen. Dies gelingt mit Hilfe der raren schriftlichen Quellen meist nur annäherungsweise: Kaum ein Sachverständiger will sich zu 100 Prozent festlegen, es geht stets nur um Plausibilitäten und historische Wahrscheinlichkeiten.

"Höchstwahrscheinliche Echtheit" des KZ-Dienstausweises

Kernstück der Anklage ist der Dienstausweis: Mehrere Experten deutscher Kriminalbehörden und Spezialisten aus den USA haben dessen "höchstwahrscheinliche Echtheit" vor Gericht bereits bestätigt. Mehrere Historiker erschütterten auch die Angaben Demjanjuks zu Chelm. Dort unter unmenschlichen Bedingungen Monate zu überleben, sei kaum möglich gewesen, zudem sei das Lager im März 1944 verlegt und im August 1944 von der Roten Armee befreit worden. Zweimal beschäftigte sich das Schwurgericht auch mit Unterlagen aus dem KZ Flossenbürg. Dort sind Akten erhalten, die für Oktober 1943 mehrmals die Anwesenheit eines "W. Demianiuk" mit der Dienstnummer 1393 belegen.

Anwalt Busch wiederum verweist gern darauf, dass die deutsche Justiz mit Nazis, SS-Führern und auch deutschen SS-Wachmännern über Jahrzehnte hinweg sehr milde umgegangen sei. In der Tat plädierten SS-Wachleute in den 50er und 60er Jahren stets auf Befehlsnotstand und kamen meist glimpflich davon. Nun solle also ein "Opfer des Nationalsozialismus" für die Verbrechen der Deutschen in der NS-Zeit büßen. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sogenannte Trawnikis aus den Vernichtungslagern ohne große Gefahr hätten fliehen können, wenn sie sich nicht am Judenmord beteiligen wollten. Solche Fälle sind bekannt. Allerdings seien auch "mindestens 120" von ihnen beim Fluchtversuch ertappt und umgehend von der SS ermordet worden, sagt Anwalt Busch. Für die Trawnikis reklamiert der Verteidiger daher einen "absoluten Befehlsnotstand" - wobei er offen lässt, ob sein Mandant ein Trawniki war.

Regelmäßig gibt es lautstarken Streit zwischen Nebenklage-Anwälten, Busch und dem Vorsitzenden Richter Ralph Alt. Immer wieder geht es um die Anschuldigung, Busch wolle durch ausufernde Fragen den Prozess in die Länge ziehen, in der Hoffnung, Demjanjuk werde irgendwann für verhandlungsunfähig erklärt. Von einer "reinen Verzögerungstaktik" sprach jüngst der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler, als Busch dem US-Militärhistoriker Bruce Menning ankündigte, er habe noch "Hunderte Fragen" an ihn. Auch Sachverständige reagieren irritiert auf Buschs Fragetechnik, so antwortete Menning einmal: "Ich bin nicht der Zauberer von Oz, ich habe keine übersinnlichen Fähigkeiten."

Fortsetzung am 13. September

Kaum ein Verhandlungstag vergeht zudem ohne längere Beweisanträge von Busch und ohne die Zurückweisung von Zeugen, Experten und des Gerichts wegen Befangenheit. Seine Taktik müsse man schon ihm selbst überlassen, sagt Busch dann stets zu Mahnungen, doch an die Gesundheit seines Mandaten zu denken. Er lasse sich jedenfalls nicht unter "moralischen Druck" setzen.

Die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten halten Richter und Gutachter nach wie vor für gegeben. Gelegentlich klagt Demjanjuk, der seit seiner Abschiebung aus den USA im Mai 2009 im Krankentrakt des Gefängnisses Stadelheim inhaftiert ist, über Kopfschmerzen; auch eine Knochenmarkserkrankung, die des öfteren Blutransfusionen erfordert, macht ihm zu schaffen. Schon mehrmals mussten Verhandlungstage kurzfristig abgesagt werden. Zuletzt ließ Richter Alt den Angeklagten jedoch zweimal zwangsweise vorführen, als der sich schlicht geweigert hatte, zur Verhandlung zu kommen.

Nun ist Sommerpause. Die Verhandlung geht am 13. September weiter, Termine sind vorläufig bis Ende Dezember angesetzt. Die Hoffnung, bis dahin zu einem Urteil zu gelangen, ist bei keinem der Prozessbeteiligten besonders groß.

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