Filmfest München:Lust auf eine Höllenfahrt

Das Münchner Filmfest startet mit einer Down-Syndrom-Komödie und zelebriert die religiöse Ikonographie des Kinos.

Rainer Gansera

Daniel, 34, hat sich an seinem neuen Arbeitsplatz in Kollegin Laura verliebt, unaufhaltsam und über beide Ohren. Die beiden sehen sich täglich im quirligen Getriebe eines Sozialamts in Sevilla. Daniel liebt ihr seidiges blondes Haar, ihren wilden Lebenselan, und beim Badeausflug am Strand malt er ihr mit der Sonnencreme ein Herz auf den nackten Rücken.

Me too - Münchner Filmfest 2010

Nur Kollegen? Daniel und Laura kommen sich im Eröffnungsfilm "Yo también/ Me too - Wer will schon normal sein?" näher.

(Foto: online.sdekostenpflichtig)

Laura findet ihn süß und witzig. "Was ist so besonders daran, mit mir zusammen zu sein?", fragt sie. Er: "Bei dir fühle ich mich so normal!" Sie, kokett: "Aber warum willst du denn unbedingt normal sein?" Eine Szene aus "Yo también/Me too - Wer will schon normal sein?", von Antonio Naharro und Álvaro Pastor, mit dem an diesem Freitagabend das 28.Filmfest München eröffnet wird.

In der Tat: Daniel ist nicht "normal", er ist das, was man umgangssprachlich und politisch unkorrekt als "mongoloid" bezeichnet, er hat das Down-Syndrom. Daniel-Darsteller Pablo Pineda ist der erste Europäer mit Down-Syndrom, der ein Uni-Studium und einen akademischen Titel vorweisen kann. Sein Daniel trägt autobiografische Züge.

"Yo también" erzählt Daniels prekäre Liebesgeschichte mit entwaffnender Direktheit und unbefangenem Witz, ohne die verkniffenen Betroffenheitsmomente, mit denen hierzulande "Behinderten-Themen" angegangen werden.

Ein publikumsfreundlicher, mit vielen Preisen bedachter Eröffnungsfilm. Freilich kann man ihm vorwerfen, und die spanische Kritik hat das deutlich getan, dass er seine Storyverwicklungen wie eine Telenovela darbiete, also allzu anekdotisch über das zentrale Problem, die gesellschaftsübliche Infantilisierung und Entsexualisierung von Menschen mit Down-Sydrom, hinweghusche.

Filmfest-Chef Andreas Ströhl will diesen Einwand nicht gelten lassen und attestiert "Yo también" hinreichenden Problembehandlungstiefgang - er war vor seiner Filmfestleiter-Zeit beim Goethe-Institut für den Fachbereich Film zuständig und geht das Kino eher bildungsperspektivisch an. Die Hommagen und Retrospektiven - dieses Jahr sind Abbas Kiarostami und Ulrich Seidl dran - werden Filmemachern gewidmet, die wohl hochverdient, aber doch längst kanonisiert sind.

Hauptthema: die Zerstörung von Biographien

Da gibt es keine Entdeckungen wie bei den Hommagen der Viennale, die als Publikumsfestival auch in anderen Hinsichten vorbildlich ist. Zum Beispiel bei der Pflege der Spielstätten als Begegnungszentren. In seinen besten Jahren konnte Ströhl-Vorgänger Eberhard Hauff das Filmmuseum und das Gasteig - nicht nur mittels hübscher Kübel-Palmen und aufwendiger Gastronomie, auch durch die Programmierung - zu Orten der Begegnung machen. Was solche festliche Ausgestaltung angeht, herrscht bei Ströhl protestantische Strenge.

Bei der Programmierung aber zeigt der Filmfestchef ein genaues Gespür für aktuelle Tendenzen des Kinos, für Zeitströmungen und thematische Vordringlichkeiten. So gibt es diesmal ein großes Thema, das quer durch die verschiedenen Reihen verfolgt werden kann: die Zerstörung von Biografien, von familiären Strukturen in einer durchökonomisierten Lebenswelt. Oft sind die Familien aufs Elementare reduziert, eine gesellschaftliche und religiöse Ur-Zelle, die Mutter-Sohn-Beziehung.

Ein abgründiges Mama-Sohn-Verhängnis gibt's im russischen "Mama" (Yelena und Nikolay Renard). "Mother" des Südkoreaners und Tarantino-Protégés Bong Joon Ho (sein Debüt "Barking Dogs Never Bite" wurde beim Filmfest 2001 prämiert) porträtiert die zwischen Aufopferungsbereitschaft und hexenhafter Intrige schwankende Mutter eines geistig retardierten Jungen, der unter Mordverdacht gerät.

Werner Herzogs Ermittlungsthriller mit Willem Dafoe "My Son, My Son, What Have Ye Done" geht auf einen Vorfall aus dem Jahr 1979 zurück, als ein junger Mann seine Mutter mit einem Schwert hinrichtete. Aggressiv endet auch in "Je suis heureux que ma mère soit vivante", von Vater Claude und Sohn Nathan Miller, von einem Jungen, der seine Adoptionsfamilie verlässt und nach seiner wirklichen Mutter sucht, aus dem Verlangen heraus, zu verstehen, warum er der verstoßene Sohn war.

Mit spielerischer gleichwohl strenger Methodik werden im neuen François Ozon "Le refuge" Beziehungen zwischen Mann, Frau, Kind durchgespielt, in einer bewegenden Schwangerschaftsgeschichte.

Bilder von Intimität und Lust

Direkten Bezug auf die heilige Familie nimmt Eugène Greens "The Portugese Nun" ("A religiosa portugesa"), der Film entfaltet sich mit schönen Fadogesängen als Liebeserklärung an Lissabon und als Porträt einer Schauspielerin, die ihrem zerflatterten Leben dadurch Einhalt gebietet, dass sie einen Waisenjungen unter ihre Fittiche nimmt.

Und "Little Baby Jesus of Flandr" des Belgiers Gust Van den Berghe bringt Felix Timmermanns berühmte Weihnachsgeschichte von drei Bettlern, die sich als Heilige Drei Könige auf den Weg machen, um ein neugeborenes Kind zu entdecken, auf die Leinwand. Es ist der zweite Film mit Down-Syndrom-Akteuren im Münchner Programm, die "Anomalität" der Akteure erscheint hier als Signum einer besonderen Berufung.

Das burleske Spiel macht sich über offizielle Religiosität lustig, zeugt aber von einer tiefen Liebe zur religiösen Ikonographie. Eine Liebe, die natürlich die ganze Filmgeschichte durchzieht und auch die Perspektive und die Kameraführung von Green bis Ozon inspiriert. Bilder einer Intimität, die rein und keusch wirken und doch von einer unübersehbaren Lust zeugen, die das Spirituelle mit dem Fleischlichen verbinden. Erlösungssehnsüchte ganz ernst genommen, das Kino als die vollkommene Religion.

Daniel in "Yo también" besucht seine geliebte Laura in Madrid, wo sie ihre traumatische Familiengeschichte bereinigen will. Er führt sie ins Prado-Museum und zeigt ihr Hieronymus Boschs Triptychon "Der Garten der Lüste". Hurtig erklärt er ihr das Szenario mit Paradies und Hölle, mit der Lust und der Sünde, und resümiert: "Um richtig Spaß zu haben, glaube ich, sollte man wohl in der Hölle landen!"

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