Konzert im Backstage:Chronisch tocotronisch

Ein Abend voll Schall und Wahn: Tocotronic stellen im Backstage ihr neues Album vor, beginnen mit Publikumsbeschimpfung - und fühlen sich schließlich pudelwohl.

Lars Langenau

Soviel vorab: Die Trainingsjacken haben Tocotronic auch für dieses Konzert im Backstage nicht hervorgeholt. Aber nach der zweiten Zugabe fühlen sich die Jungs in München so wohl, dass sie schlechten Geschmack schlechten Geschmack sein lassen. Kurz runter von der Bühne, raus aus den schweißnassen Klamotten. Und wieder zurück: Sänger Dirk von Lowtzow trägt nun ein knallpinkes Shirt, fast im Partnerlook mit Schlagzeuger Arne Zank und Gitarrist Rick McPhail begleitet die Herren im blauen Star-Wars-Shirt, auf dem politisch korrekt "Stop Wars" steht. Der Vollständigkeit halber: Bassist Jan Müller hat sich einen Rautenpulli übergezogen.

Konzert im Backstage: Tocotronic rockten das Backstage - und predigten nach Shakespeare und Flaubert.

Tocotronic rockten das Backstage - und predigten nach Shakespeare und Flaubert.

(Foto: Marco Einfeldt)

Dann stimmen die vier "Pure Vernunft darf niemals siegen" an. Das ist nun die dritte Zugabe an diesem Abend. Die Menge tobt. Vor der Bühne hievt sich einer auf die Schultern seines Kumpels, der Bursche dreht sich nach hinten, breitet die Arme aus und predigt die Worte von Sänger Dirk von Lowtzow in die Masse: "Pure Vernunft darf niemals siegen."

Das nehmen manche an diesem Abend wortwörtlich: Die Ordner kommen kaum mehr mit, die Stagediver von den Köpfen der Menge zu ziehen. Was für eine Stimmung. Die Hamburger haben Schule gemacht - und werden in München euphorisch empfangen. Schlüpfer fliegen keine auf die Bühne, dafür bekundet das überwiegend männliche Publikum der Band seinen Respekt, indem es Bierbecher nach vorne schleudert. Immerhin sind es Becher. Aus Plastik.

Das Album Schall & Wahn, mit dem die Band nun auf Tour ist, ist chronisch tocotronisch und auch sonst einfach gut: Darin mischen die Jungs die rotzigen Gitarrenklänge ihrer Anfangsphase mit wunderbaren Texten und Refrains, die so eingängig sind, dass der Ohrwurm tagelang arbeitet. Zum Beispiel die neue Tocotronic-Heimwerkerhymne "Mach es nicht selbst." Das ist stampfender Garagenrock zum mitsingen und mithoppeln.

Dabei ist es ja so: Tocotronic, die vier Jungs aus Hamburg, waren seit ihrer Gründung 1993 der Inbegriff der Fan-Band. Die Liebhaber sind genauso fanatisch wie die Hasser. An diesem Abend im Backstage sind die Tocotronic-Jünger eine bunte Mischung aus melancholisch dreinblickenden, blassen Jungs mit Hornbrillen, coolen Szenegängern, verliebten Pärchen - und ja, Feiernden aus dem tiefsten Frankenland.

So etwa die Gruppe um Markus. Extra aus Erlangen seien sie angereist, erzählt der 33-Jährige, weil: "Toco is subba", sagt er. Vor elf Jahren hat er sich sein erstes Album gekauft. Und noch immer ist er begeistert: "Die Lieder sind wie aus dem Leben gegriffen, der Sänger erzählt, was die Jugend bewegt."

Dabei steigt Sänger Lowtzow an diesem Abend erst einmal mit Publikumsbeschimpfung ein: "Eure Liebe tötet mich", singt er ins Mikro. Das ist auch die erste Nummer des aktuellen Albums. Seine Jünger lieben Lowtzow trotzdem. Der Franke Markus mischt sich unter die Menge und kämpft sich vor in Richtung vorderer Bühnenrand, wo sich die Masse bereits zappelnd hin und her bewegt.

"Bitte oszillieren Sie"

Dass sich das Publikum da bereits vor der Bühne drängt, das haben die Hamburger Jungs ihrer Vorband zu verdanken. Besser gesagt ihrem Vormann. Der nennt sich Dobré, ist ein junger Sänger aus München, und kann ganz wunderbar Gitarre spielen und dazu singen. Mit einer Mischung aus Folk und Pop hat er das Publikum auf die Tanzfläche gelockt.

Zurück zu Tocotronic. Nach der ersten, etwas ruhigeren Nummer, prügeln sie ihr Set regelrecht durch. Sie mischen aktuelle Songs mit den Hits der vergangenen Alben. Zwischendrin bedankt sich Frontmann Lowtzow artig mit "Dankeschön, tausend Dank, ihr seid sehr warmherzig", um im selben Atemzug "Sag alles ab" anzustimmen, eine Nummer von dem Album Kapitulation.

Oder seine Fans mit einem "weiteren Tanzlied" zu beglücken: "Einem bisexuellen Reigen." So jedenfalls kündet Lowtzow einen weiteren Song des aktuellen Albums an. Es handelt sich um "Bitte oszillieren Sie" - und der Aufforderung kommt das Publikum gerne nach, zumindest wenn damit das Abhotten zum Licht der Scheinwerfer gemeint ist.

Auch schön: Die Klangwelten, die Lowtzow und McPhail mit den Akkorden ihrer verzerrten E-Gitarren erschaffen, die am Ende des Konzerts gar an "This is the end" von The Doors erinnern... Beabsichtigt? Bei den Jungs, die sich bei ihren Texten unter anderem von Shakespeare und Flaubert inspirieren lassen, weiß man halt nie.

Knappe zwei Stunden also spielen Tocotronic im Backstage. In dieser Zeit gewinnen sie ihr Publikum richtig lieb. "Es ist wirklich, wirklich, wirklich eine Freude, nach München zu kommen", haucht der sonst so wortgewaltige Lowtzow mit tiefer Stimme ins Mikro und stimmt einen weiteren Klassiker an: "Drüben auf dem Hügel" von dem Album Digital ist besser. Danach gibt es noch einen Song vom neuen Album, der sich in die Gehörgänge hämmert. Und so geht es an diesem Abend immer weiter.

Insgesamt drei Zugaben spielen die Jungs. Bis sie in bunten T-Shirts vor ihrem Publikum stehen und die letzte Botschaft an diesem Abend predigen. Das mit der Vernunft, die nicht siegen darf. Oder, um es wie Tocotronic mit Shakespeare zu sagen: Das Leben, heißt es in Macbeth, ist "eines Toren Fabel nur, voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar".

Und davon haben Tocotronic an diesem Abend viel erzählt.

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