Brunner-Prozess:Wenn's der Wahrheitsfindung dient

Lesezeit: 4 min

Warum spricht der Richter im Brunner-Prozess so fürsorglich zu den Angeklagten? Weil nur die Balance aus Distanz und Nähe zu einem guten Verhandlungsergebnis führt. Ein Richter muss daher immer auch Schauspieler sein.

Benno Hurt

Benno Hurt, 69, war bis 2006 Vorsitzender des Jugendschöffengerichts am Amtsgericht Regensburg. Seit den sechziger Jahren ist er auch Schriftsteller, seine Romane erscheinen bei dtv.

"Richter müssen Schauspieler sein, die Richter spielen", sagt der ehemalige Richter Benno Hurt. (Foto: Christian Brüssel)

Es war im Jahr 1985: Er kam nicht durch die Tür für Verfahrensbeteiligte, sondern stürmte mit zwei Dutzend Gleichaltrigen in den Zuschauerraum: der 18-jährige L., umgeben von seinen schwarzledern-gepanzerten Sympathisanten. Unter dem Hallo seiner Rockerfreunde turnte er über die Barriere, die die Prozessbeobachter von den Beteiligten trennt. Grinsend, den Blick nach hinten gewandt, stand er neben der Anklagebank.

Ich fühlte mich in meiner Robe plötzlich wie kostümiert. Da fiel mir die Zeile von Udo Lindenberg ein: "Ich bin Rocker, aber ich bin nicht so'n primitives Schwein und schlag' nem Schwachen die Fresse ein." Ich sagte: "Nehmen Sie Platz!" Ruhe trat ein. Ein Anfang war gemacht. Nicht mehr.

2006: Der heroinabhängige Russlanddeutsche hielt den Kopf gesenkt, während der Staatsanwalt die Anklage verlas. Der junge Mann wollte nicht wach werden. Nicht in diesem Land, das ihm seine Eltern verordnet hatten. Er wollte auch nicht wach werden in "meiner" Verhandlung. Er sprach Deutsch, wie ich aus der Akte wusste; leidlich. Er kaute Kaugummi, was die Kommunikation erschwerte. Um an ihn heranzukommen, wollte ich ohne die Dolmetscherin auskommen. Ich ließ ihn eine Weile kauen. Dann legte ich, als er sprach, die Hand an mein Ohr und lächelte. Da lächelte er auch und spuckte sich den Kaugummi in die Hand.

Der Ton des Vorsitzenden Richters im Prozess um den Tod von Dominik Brunner soll geradezu fürsorglich sein, wie es in Berichten aus dem Gerichtssaal heißt. Es ist der richtige Ton, wenn er, um mit Fritz Teufel zu reden, der Wahrheitsfindung dient. Denn im Brunner-Fall ist die Wahrheitsfindung besonders schwierig. Das allgemeine Interesse ist so stark wie selten auf den Vorsitzenden und seine Beisitzer gerichtet. Urteile der Öffentlichkeit waren schon gesprochen, bevor der erste Zeuge den Saal betreten hatte. Mit der Äußerung, Brunner habe zuerst geschlagen, brachten die Angeklagten die Öffentlichkeit ein weiteres Mal gegen sich auf.

Unter diesen Voraussetzungen erweist ein Richter, der dem Volk nicht nach dem Munde spricht, dem Kernstück des Strafprozesses, der Hauptverhandlung, seinen Respekt. Denn sie bietet die größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit, aber auch für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten. Die monatelange Aufmerksamkeit der Medien, ihre druckvolle Präsenz auch im Sitzungssaal kann vom Gericht nicht verhindert werden. Denn eine Verhandlung gegen einen Jugendlichen ist immer dann öffentlich, wenn er zusammen mit einem Heranwachsenden (also einem Angeklagten zwischen 18 und 21 Jahren) auf der Anklagebank sitzt.

Manchen jungen Angeklagten schüchtert das ein, während ein anderer, der sich gern für den Mittelpunkt hält, dazu neigt, der Öffentlichkeit zu imponieren. Mit beiden Möglichkeiten hat ein Gericht immer zu rechnen. Und auch damit, dass es selbst einschüchtert: draußen vor dem Saal mit Marmor, Säulen und Löwen, drinnen mit Robe, prozessualen Förmlichkeiten, Ritualen. Wie dem entgegenwirken? Vom Sockel der Richterbank hinuntersteigen, Platz nehmen an einem "runden Tisch" (der aber erst noch herbeizuschaffen wäre), die Robe über die Stuhllehne hängen?

Nein, es wäre verkehrt, einer Hauptverhandlung das Förmliche zu nehmen. Die meisten Straftäter stammen aus schlechten Verhältnissen. Sie hätten kein Verständnis für Richter, die sich auf ihre Stufe begeben. In Erinnerung ist mir ein Brief geblieben, den ein rückfällig gewordener Täter aus der U-Haft schrieb. Er amüsierte sich über das Du, das ihm ein Richter angeboten hatte, nachdem das Urteil gesprochen war. Straftätern wird die Orientierung erschwert, wenn Staatsanwälte und Richter ihnen vorspielen, es gebe kein Oben und Unten.

Welcher Ton, welche Verhandlungsatmosphäre für welches Delikt? Gilt es zwischen einem bloßen Vergehen (wie Hausfriedensbruch) und einem Verbrechen (wie der Tötung eines Menschen) zu unterscheiden? Ist es also tragbar, dass der Münchner Richter Reinhold Baier "fürsorglich" zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Mördern von Dominik Brunner spricht? Aufgepasst: Vor allem in einem Verfahren, in dem Rechtsanwälte mehr tun als ihre Pflicht, spricht ein Richter, der sich den Angeklagten freundlich zuwendet, oft primär mit den Verteidigern. Vielleicht haben die ja noch einen Beweisantrag im Köcher, der im letzten Augenblick die Arbeit von vielen Verhandlungstagen zunichte macht.

Ein moderater Ton wiegt in Sicherheit, hält unter Umständen davon ab, alle Pfeile abzuschießen, die die Strafprozessordnung möglich macht. Nichts davon soll hier den Münchner Richtern unterstellt werden. Aber verwundert es wirklich, dass Richter sich immer wieder mit Gutmütigkeit und Charme bewaffnen, wenn sie es mit so genannten "Konfliktverteidigern" zu tun haben?

Richter müssen Schauspieler sein, die Richter spielen. Aber für ihre Sprache, für Körperhaltung und Gesten - also für all das, womit sie Atmosphäre schaffen, gibt es kein Regelwerk. Am besten lässt sich in einer Atmosphäre verhandeln, in der es eine Balance aus Nähe und Distanz gibt. Richter müssen dem Angeklagten nahekommen, damit dieser sich öffnet. Richter müssen begriffen haben, wenn sie richten. Richter müssen distanziert ihr Urteil sprechen. Nur das Urteil, das durch Nähe gewonnen und aus der Distanz verkündet wurde, ist für den Angeklagten annehmbar. Es lässt nicht den Verdacht aufkommen, dass hier einer unter dem Vorwand, im Namen des Volkes Recht zu sprechen, in Wirklichkeit etwas ganz anderes tut: Rache ausüben.

Diese Balance zwischen Distanz und Nähe ist dem Münchner Gericht zu wünschen. Kommt es tatsächlich zu der Überzeugung, dass die Tötung Dominik Brunners ein Mord war, steht ihm das Schlimmste ohnehin noch bevor. Altersmäßig trennen den Jugendlichen und den Heranwachsenden nicht mehr als ein Jahr. Auf einen jugendlichen Mörder wartet eine Höchststrafe von zehn Jahren; gegen einen Heranwachsenden aber kann das Gericht Lebenslänglich verhängen.

Unterstellt, er ist schuldig, muss das Gericht nach dem Jugendgerichtsgesetz entscheiden, ob der heranwachsende Verbrecher zur Tatzeit bei "Gesamtwürdigung der Persönlichkeit, bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen, nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand". Bejaht es dies, hat dies die mildere Strafe zur Folge. Der öffentliche Aufschrei wäre dem Gericht gewiss.

© SZ vom 16.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: