Altersarmut:Wenn nichts zum Leben bleibt

Sie trägt alte Kleider, spart wo es geht, an Urlaub ist nicht zu denken: Die 79-jährige Anna Riss muss mit sehr wenig Geld auskommen - obwohl sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat. Oft reicht es nicht mal zum Essen. So geht es immer mehr Rentnern in der reichen Stadt München.

Ellen Draxel

Altersarmut in München

Ihr bleibt nicht viel zum Leben übrig, trotzdem ist sie "eigentlich zufrieden": Anna Riss spielt mit Freundinnen im Altenheim.

(Foto: Catherina Hess)

Anna Riss ist eine starke Frau. Fleißig und mutig, mit viel Humor. Sie hat gern Leute um sich, das war schon früher so. Wenn die Schwabingerin Anekdoten erzählt, hängen die Zuhörer an ihren Lippen. Vielleicht, weil die 79-Jährige sich traut, auszusprechen, was sie bewegt. Weil sie sich nicht scheut, ihr Leben, das alles andere als leicht war, vor Fremden auszubreiten. Und weil sie kämpft.

Anna Riss entstammt der Kriegsgeneration. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann ist erst vor wenigen Wochen gestorben. 32 Jahre lang hat sie ihn gepflegt, zum Schluss rund um die Uhr. "Ich war 47, als mein Mann 44-jährig an einem Gehirntumor erkrankte", erinnert sie sich. Damals hatte man ihr gerade eine Vollzeitstelle im Stadtarchiv angeboten. Hätte sie zugesagt, bekäme sie jetzt 400 Euro Rente mehr pro Monat. Aber sie schlug aus, nahm stattdessen drei Minijobs an - als Reinigungshilfe. So konnte sie sich parallel um ihren hilfsbedürftigen Gatten und die Kinder kümmern. Geld zum Zurücklegen für später blieb keines übrig.

Heute lebt Anna Riss von der Grundsicherung. In die ist sie gerutscht, als ihr Mann vor fünf Jahren ins Pflegeheim kam. Mit ihrer eigenen Rente von 680 Euro und der ihres Mannes allein waren die Heimkosten von mehr als 2000 Euro nicht mehr zu stemmen. Zumal noch die Miete von rund 900 Euro für Riss' Zwei-Zimmer-Wohnung zu finanzieren war. Jahrelang musste sie deshalb mit knapp 500 Euro im Monat auskommen - für Strom, Telefon, Versicherungen, aber auch für Kleider, Essen und was man sonst noch so zum Leben braucht.

Frauen opfern sich auf - und haben am Ende nichts

So wie Anna Riss geht es vielen älteren Menschen, vor allem Frauen. Es ist die klassische Konstellation: Raus aus dem Beruf, Kinder erziehen, neben dem Teilzeitjob ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben und Angehörige pflegen. "Die Frauen opfern sich auf, sind meist sehr organisiert, und wenn sie dann in Rente gehen, rutschen sie in die Bedürftigkeit", erklärt Sophie Eder, Leiterin des Alten- und Service-Zentrums in der Schwabinger Hiltenspergerstraße.

Dass die Tendenz zur Altersarmut steigt, beobachten auch Eders Kolleginnen in den ASZ Schwabing-Ost und Freimann. "Wir merken das an ganz alltäglichen Dingen", sagt Daniela Spießl vom Zentrum in Freimann. "Viele Leute schämen sich, in unsere Schuldnerberatung zu kommen - und wenn sie den Weg dann doch finden, haben sie immer dasselbe an." Wer kein Geld im Portemonnaie hat, kann sich keine neuen Hosen, Pullis und Jacken leisten.

In der Kleiderkammer des Caritas-Zentrums Schwabing-Milbertshofen, die jeden Donnerstagnachmittag geöffnet hat, dürfen derzeit 334 Menschen gespendete Kleidung mitnehmen. "Die Ausgabe der kostenlosen Lebensmittel in Kooperation mit der Münchner Tafel, die gleichzeitig stattfindet, mussten wir inzwischen sogar in zwei Gruppen aufteilen", erläutert Monika Jörg-Müller von der Gemeindeorientierten Sozialen Arbeit im Caritas-Zentrum. So stark sei die Anzahl der Berechtigten angestiegen.

Wer unter drückendem Geldmangel leidet, nimmt aber auch an keinem Kurs teil, bucht keine Ausflüge und besucht keine Vorträge, die die Alten- und Service-Zentren anbieten. "Die 1,50 Euro, die wir zum Beispiel für einen Vortrag über das Thema Schlaganfall verlangen, um die Redner bezahlen zu können, sind oft schon zu viel", bestätigt Eder.

Satt werden für 25 Cent

60 Senioren kommen Woche für Woche in die Cafeteria des Westschwabinger ASZ zum Mittagessen. Fünf Euro kosten Salat, Suppe, Hauptspeise und Dessert regulär. Aber nur ein Viertel der Besucher zahlt diesen Preis. Alle anderen essen entweder für 25 Cent, weil ihre Einkünfte so gering sind, dass sie durch die Grundsicherung abgefangen werden müssen. In diesem Fall kommen die Sozialbürgerhäuser für den Differenzbetrag von 4,75 Euro auf. Oder die Gäste bezahlen drei Euro, dann finanzieren Stiftungen wie der SZ-Adventskalender die Restsumme.

Auch Anna Riss geht jeden Tag zum Essen in die Hiltenspergerstraße. Das, und ab und zu ein Abstecher in den Seniorenclub der Pfarrei Sankt Sebastian ist alles, was sie sich gönnt. Urlaub kann sie sich nicht leisten. Die Kleidung, die sie trägt, ist geschenkt, nur die Schuhe sind neu. Eigentlich, meint sie bescheiden, sei sie "ganz zufrieden" mit ihrem Leben. Sorgen macht sie sich momentan trotzdem.

Denn noch ist der Bescheid ihrer künftigen Witwenrente nicht da. Sollte sie mit dieser neuen Kalkulation knapp über der Grundsicherung liegen, die sich aus einem derzeit in München geltenden Regelsatz von 393 Euro und den Kosten für eine angemessene Wohnung zusammensetzt, hätte sie keinen Anspruch mehr auf Leistungen aus der Sozialhilfe. Sie bekäme dann auch kein Geld für eine später vielleicht benötigte Haushaltshilfe. Aufgeben wird Anna Riss nicht: "Ich habe mich bisher immer irgendwie durchgewurschtelt - da wird das auch noch gehen."

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