München:Zwischen Presssack und Weltgeschehen

Am Stammtisch der alteingesessenen Moosacher im "Hacklhaus" wird geratscht, gefrotzelt und nicht zuletzt erfolgreich Stadtteilpolitik gemacht

Von Anita Naujokat

Erst wird Brotzeit gemacht, dann politisiert, debattiert, geredet, Neues ausgetauscht. Das ist eine feste Regel beim Stammtisch der alteingesessenen Moosacher - oder der sonstwie mit dem Stadtbezirk Verbandelten im "Hacklhaus" am Moosacher St.-Martins-Platz. "Es gibt eigentlich kein Thema, das nicht angeschnitten wird", sagt Karl Bucher, der Ehrenvorsitzende des Moosacher Gesamtvereins und stolzer Träger der Ehrenmedaille "München leuchtet".

Und natürlich gibt es Ratsch und Tratsch, Frotzeleien inbegriffen. Vielleicht sollte man dem Pfarrer ja ein Bild von den Regensburgern, dem Leberkäs und dem Presssack vom kalten Büfett simsen, witzeln sie an jenem Abend am vorderen Tisch. Monsignore Martin Cambensy ist noch mit der Montagsmesse in der alten Sankt-Martins-Kirche schräg gegenüber beschäftigt - und hat bestimmt Hunger, vermutet man am Stammtisch. Als der Kirchenmann dann eintrifft und sich ein Kellerbier zapft, wird weitergefrotzelt: "Hat der jetzt einen Irokesenschnitt oder ham's den drüben so dahergewerkelt, dass ihm schon die Haare zu Berge steh'n?" Der Pfarrer nimmt es gelassen.

Die Moosacher Runde trifft sich immer montags, komme da, was wolle. Der jüngste ist Cambensy mit seinen 57 Jahren, der älteste der Metzgermeister Lorenz Besel, der im August seinen 86. Geburtstag feiern wird. Für ihn hat Bucher, der wie eh und je die Brotzeiten einkauft und zubereitet, immer weißes Brot, das aber diesmal auf unerklärliche Weise vergriffen ist. "Das Brot hier verdirbt die Wurst", murmelt Besel kritisch vor sich hin und schaut skeptisch auf die dunkle Scheibe.

2104 Lebensjahre haben die derzeit 28 Mitglieder zusammen auf dem Buckel, das Durchschnittsalter beträgt 75,14 Jahre; seit 1997 mussten 17 Weggefährten zu Grabe getragen werden. Über all das führt Albert Scharr mit Fotos, Geburts- und Sterbedatum penibel Buch, sozusagen als papierenes Back-up der Stammtischbrüder. Als Beisitzer des Gesamtvereins und Hausmeister im benachbarten Pelkovenschlössl kannte er den Stammtisch schon lange, war aber immer von einer eingeschworenen Gemeinschaft ausgegangen. Bis sie ihn ansprachen, ob er sich zu gut sei, um sich dazuzusetzen. So läuft das mitunter mit der Aufnahme.

Neue können reinschnuppern - und werden beschnuppert. "Dann sieht man schon, ob's passt", so Bucher. Interessenten gebe es immer, sagt Scharr, doch derzeit werde niemand aufgenommen. Jüngster Neuzugang ist Ernst Sangl, er stieß vor zwei Jahren dazu. Der Hobbyhistoriker und leidenschaftliche Filmemacher holt sich beim Stammtisch seine Inspiration: "Der ist eine Superquelle für Zeitzeugen im lokalen Bereich, die anders nur schwer anzutreffen sind." Sangl hat die "Moosacher Geschichten" gedreht. Derzeit versucht er, die Geschichte des Stadtbezirks mit Hilfe moderner Medien umzusetzen.

Mitunter sind auch Gäste eingeladen, vor drei Wochen etwa Münchens Zweiter Bürgermeister Josef Schmid (CSU). "Wir wollen doch den Saal beim Pelkovenschlössl bauen und halt mal nachforschen, wie weit das Anliegen gediehen ist", erklärt Bucher, als könne er kein Wässerchen trüben. Denn Einladungen an diesen Stammtisch sind selten ohne Hintergedanken. Davon konnten schon der frühere Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) und sein Kulturreferent Julian Nida-Rümelin ein Lied singen. Als sie 1999 zu Gast waren, hatte der Stammtisch just an jenem Tag "rein zufällig" den Schlüssel für das leer stehende Pelkovenschlössl, so dass sich ganz spontan eine Führung anbot. Wobei es sicher auch nicht verkehrt war, dass Rathaus-SPD-Chef Alexander Reissl der Zweite Vorsitzende des Gesamtvereins ist. Das Ende ist bekannt: Fünf Jahre später hatte der Stadtbezirk sein Kultur- und Bürgerhaus. Und auch zum amtierenden Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) pflegt man schon Kontakte.

Aufreger an diesem Abend ist die Bahnunterführung an der Dachauer Straße. "Die g'hört scho' seit fünfzig Jahren gemacht", geht Hans Marzok schier in die Luft. Dass ein Ausbau mehr Verkehr anziehen könnte, das hohe Grundwasser, die langen Rampen - das alles wischt er als haltlose Vorwände vom Tisch. Einzig der "Prinzregent" sagt kaum etwas. Schweigend und scheinbar unbewegt sitzt er in der Ecke, verfolgt aber mit lebhaften Augen die Gespräche. Als er doch einmal die Stimme erhebt, sagt ihm sein Nachbar, er solle ihn nicht unterbrechen. Den Namen hat Eugen Brünstler, wie "der Prinzregent" bürgerlich heißt, weg, seit er beim Festzug während der Feiern zu "1200 Jahre Moosach" wegen seines Vollbartes Luitpold von Bayern verkörperte. Die Freunde nennen ihn auch Wastl. "Als Eugen kennt den keiner" sagt Johann Luxenburger.

Angefangen hat es mit dem Stammtisch vor mehr als 30 Jahren. Damals trafen sich die Mitglieder des Moosacher Schützenkranzes regelmäßig in der ehemaligen Bäckerei Eberl, später im Feuerwehrhaus. "Das ging aber wegen der Einsätze nicht mehr", erzählt Bucher, also wich man ins Hacklhaus aus. "Als die Schützen nach und nach ausblieben, hieß es, komm halt auch einmal vorbei, und so hat sich das entwickelt", sagt Bucher. Immerhin ist der Ehrenschützenmeister und Kommandant der Böllergruppe, Sepp Kaiser, noch dabei. Frauen sind als Mitglieder nicht zugelassen. "Aber nicht, weil wir frauenfeindlich wären, sondern weil wir ein reiner Männerstammtisch sind." Mit den Frauen geht man dafür donnerstags zum Mittagessen, dann sind auch die Witwen verstorbener Mitglieder dabei.

Während hinten lautstark über die Unterführung und Zumutungen für die Pendler debattiert wird, entspinnt sich vorn ein Gespräch über die Bierkultur vergangener Tage und den Energieaufwand beim Spargelanbau, nur damit der heutzutage schon im März auf dem Markt sein kann. Dann dreht sich alles um den Sozialismus auf Kuba. Und niemand sollte glauben, dass sich ältere Herren nicht für junge Themen interessieren: Irgendwann sind sie bei den Vor- und Nachteilen des acht- und neunstufigen Gymnasiums angelangt. Manchmal gehe es auch rau zu, räumt Luxenburger ein, der sein eigenes Brotzeitmesser mitgebracht hat und als ehemaliger Trainer der harten Jungs von der Skeleton-Mannschaft bei den Olympische Winterspielen 1994 in Lillehammer und Salt Lake City 2002 einiges gewohnt sein dürfte: "Aber g'rauft wird nimmer." Verabschiedet wird der weibliche Gast mit der Aufforderung, im September unbedingt wiederzukommen. Dann will Helmut Schaller, ehemals Wirt im "Alten Wirt", zu seinem Geburtstag seinen "unvergleichlichen Pichlstoaner" machen. Ehrensache.

Am Montag lesen Sie: das "Tabak- und Getränkelad'l" an der Steinstraße in Haidhausen

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