München:Zitadelle gegen Zeit-Diebe

Rüdiger Safranski

Muße in der Bibliothek: Der Autor Rüdiger Safranski - hier in seinem Haus in Badenweiler - kommt zu einer Lesung nach München.

(Foto: Patrick Seeger/dpa)

Rüdiger Safranski spricht in der Monacensia über das, was uns allen fehlt - und was uns große Konzerne dennoch nehmen wollen. Er geißelt deren Attacken auf unsere Aufmerksamkeit und singt ein Loblied auf die Langeweile

Von Jutta Czeguhn

Die Sommerferien könnten ein guter Zeitpunkt sein, sich ohne Zeitdruck mit dem Phänomen Zeit zu befassen. Inspirationen dazu liefert beispielsweise die Installation von Christoph Brech "It's about time" am Giesinger Berg vor der Heilig-Kreuz-Kirche. Und/oder Rüdiger Safranski, der am Montag, 7. August, 19 Uhr, in der Monacensia zu Gast ist und Brechts Kunstintervention aus philosophischer Sicht begleitet. "Zeit für die Zeit" ist der Titel seiner Lesung, mit der er Bezug nimmt auf sein Buch "Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen". Wir haben uns mit dem in Berlin lebenden Autor am Telefon verabredet. Auf die Minute läuten wir durch, und Safranski nimmt ab:

SZ: Guten Tag Herr Safranski. Schön, dass Sie Zeit haben. Unser Gespräch findet pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt statt. Wie wichtig ist Ihnen Pünktlichkeit?

Rüdiger Safranski: Da, wo es sein muss, ist das schon sehr gut. Aber ich will es nicht übertreiben. Pünktlichkeit ist Ausdruck der vergesellschafteten Zeit.

Die Tatsache, dass wir wie ausgemacht nun miteinander reden, hat also damit zu tun, dass wir uns in einer zeitlichen Konvention bewegen, der sich alle mehr oder weniger unterwerfen. In Ihrem Buch sprechen Sie von der Gleichzeitigkeit, die - auf die Menschheitsgeschichte gesehen - ein sehr junges Phänomen ist. Vom ersten Eisenbahnfahrplan im 19. Jahrhundert bis zum Facebook-Live-Stream heute ist es gar nicht so weit her. Was macht diese Gleichzeitigkeit mit uns?

Erst dadurch, dass technische Innovationen eine Kommunikation in Echtzeit über raumentfernte Punkte möglich machen, leben wir in einer globalisierten Welt. Man muss sich das einmal klar machen: In der Menschheitsgeschichte war es lange so, dass raumentfernte Punkte nie gleichzeitig erlebt werden konnten. Alles, was raumentfernt geschehen ist, kam, wenn überhaupt, erst mit Verspätung an. Unsere Realität der Gleichzeitigkeit heute hat natürlich viele Vorteile. Aber die Ent-Fernung der Entfernung hat eben auch eine ungeheure Überforderung und Schutzlosigkeit zur Folge. Man kann vor diesem Hintergrund auch sagen, Entfernungen schützen auch. So viele gleichzeitige Weltereignisse, wie wir sie heute kommunizieren müssen, das hält kein Mensch aus. Das ist massive innere Umwälzung unserer Wahrnehmung.

Die Zeit scheint das Kostbarste zu sein, was wir besitzen. Das wissen offenbar auch so mächtige Konzerne wie Google oder Facebook, die sogenannte Attention-Industry lebt von einem einzigen Gut, sie will möglichst viel von unserer Zeit bekommen. Wie schaffen wir es da, die Autonomie über unsere Zeit zu behalten?

Wir müssen eine Zitadelle bauen, da hilft alles nichts. Man muss nicht bei allen diesen Sachen mitmachen. Ich beispielsweise bin nicht auf Facebook, und wenn ich ins Netz gehe, achte ich sehr darauf, dass ich meine Zeit-Souveränität behalte. Wir müssen eine Sensibilität für die Zeit-Diebe entwickeln, so wie wir auch sonst darauf achten, nicht bestohlen zu werden von diesen Geschäftemachern, die mit der Zeit handeln. Natürlich muss man hier gesellschaftlich und politisch einiges unternehmen, aber das fängt bei jedem Einzelnen an. Für mich ist es ein existenzieller Punkt, darauf zu achten, möglichst viel Zeit-Souveränität zu behalten. Das wird in Zukunft immer wichtiger werden, Zeit-Souveränität ist elementarer Bestandteil der individuellen Freiheit.

Gehören Sie nicht auch zu den Zeit-Dieben? Der dänische Philosoph Kierkegaard etwa hat, wohl eher halbernst, darauf hingewiesen, Kultur sei Flucht vor der Langeweile. Sie als Autor füllen also die Zeit der Menschen mit Ihren Büchern und Lesungen wie nun am kommenden Montag. Auch Sie leben quasi von der Zeit, die Ihnen andere schenken.

Sicher, ich nehme Aufmerksamkeit in Anspruch. Allerdings ist das etwas anderes als Diebstahl. Schauen Sie, wenn ich ins Internet gehe, werde ich dauernd mit Werbung befeuert, Dinge, die ich mir gar nicht wünsche. Mir kommt es so vor, wie wenn da so eine Kloake überläuft ins Bild hinein, eine Attacke auf unsere Aufmerksamkeit mit Informationsschmutz. So lange gesellschaftlich nichts dagegen getan wird, muss man individuell sein Immunsystem dagegen stärken.

Wenn man das kann.

Sicher, ich bin freier Schriftsteller, ich habe gut reden. Aber der Grundsatz gilt auch hier: Die Spielräume, die man hat, sind immer größer, als man glaubt.

Zurück zur Langeweile, diesem wunderbaren Wort.

Ich fange mein Buch mit der Langeweile an. Warum? Wenn die Ereignisse wegbleiben oder spärlicher werden, dann ist das gewissermaßen der Striptease der Zeit, dann ist sie nackt vor uns, leer. Dann erfahre ich in besonderer Weise, was es mit der Zeit auf sich hat. Die leere Zeit zu erfahren, dieses Verstreichen, das ist ein ungeheures Mysterium. Das kann als ein meditativer, tiefenentspannter Zustand erlebt werden, aber auch als absolut beängstigend. Da gibt es diesen Berliner Spruch: "Mensch, geh' in dir - War ich schon, war och nischt los!" Diese Begegnung mit dem eigenen Nichts kann ziemlich quälend sein, weswegen die Leute gleich wieder in die Unterhaltung fliehen. Von der Langeweile aus erschließt sich, davon bin ich überzeugt, wunderbar die conditio humana.

Herr Safranski, danke für Ihre Zeit.

Rüdiger Safranski, Lesung "Zeit für die Zeit", Montag, 7. August, 19 Uhr, Monacensia, Maria-Theresia-Straße 23, Eintritt frei.

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