Flüchtlinge in München:Wie es ein verwundeter Syrer ins Land der Ärzte schaffte

Flüchtlinge in München: Ahmad Omar im Krankenhausbett: Langsam fasst der junge Mann Vertrauen zu den Ärzten.

Ahmad Omar im Krankenhausbett: Langsam fasst der junge Mann Vertrauen zu den Ärzten.

(Foto: Stephan Rumpf)

Ahmad Omar wird in Damaskus von einer Granate verletzt. Er hat offene Wunden und kann nicht mehr gehen. Dennoch wagt er mit seinem 14-jährigen Bruder die Flucht.

Reportage von Paul Munzinger

Es ist am frühen Abend, als Ahmad Omar um eine Pause bittet. Er möchte beten. Die Dunkelheit hüllt sein Krankenzimmer langsam ein, für das Nachmittagsgebet bleiben ihm nur noch wenige Minuten. Am Griff über seinem Bett zieht Omar sich nach oben, bis er aufrecht sitzt.

In dem viel zu großen weißen Nachthemd wirkt er ein wenig verloren, sein Gesicht ist blass, die dunklen Haare zerzaust. Seine Bettdecke ist nach oben gerutscht, der nackte linke Fuß liegt frei. Omar bemerkt es nicht. Er schließt die Augen und preist Allah, den Barmherzigen, den Gott, der ihn hierher gebracht hat. Die Arme hat er erhoben, die Handflächen nach vorne geöffnet. Nach Norden. In seinem Rücken, da wo der Rollstuhl steht, liegt Mekka. Aber in Omars Fall geht das in Ordnung.

Nach drei Jahren können die Wunden heilen

Es grenzt an ein Wunder, dass Ahmad Omar heute in einem frischbezogenen Bett im Krankenhaus in München-Pasing liegt und die Geschichte seiner Flucht erzählen kann; dass er auf die Frage, wie es ihm geht, "very good", sehr gut, antwortet; dass seine Wunden jetzt, nach fast drei Jahren, verheilen können.

Am 24. Dezember 2012, dem Tag, den die Christen Heiligabend nennen, machte Omar in Damaskus einen Spaziergang, wie er erzählt. Woher die Granate kam, die hinter ihm explodierte, weiß er nicht. Er hat nichts gesehen, nichts gehört. Ein Splitter bohrte sich in seinen Fuß, ein anderer zertrümmerte drei seiner Lendenwirbel. Omar ist seitdem von der Hüfte abwärts gelähmt. Die Granate ist der Grund, warum er nach Deutschland aufgebrochen ist. Und der Grund, warum er beinahe nie angekommen wäre.

Der Krieg in Syrien machte Omar zu einem Vertriebenen. Ein Flüchtling war er schon immer. Vor 28 Jahren kam er in Jarmuk zur Welt, einem Flüchtlingslager am Rand von Damaskus. Seine Familie kam 1948 aus Palästina. Omar, so sagt er, arbeitete in einem Ingenieurbüro, er wollte heiraten. Dann kam der Krieg: Granatsplitter trafen seine Schwester ins Bein, seinen Onkel in den Arm und ins Bein, seinen Vater in die Schulter. Omars älterer Bruder ist im Gefängnis. Warum? "In Syrien fragst du nicht warum", sagt Omar. Er fürchtet, dass seine Verwandten in Syrien für das büßen müssten, was er in Deutschland erzähle.

Die Ärzte sind aus Syrien geflohen

Eineinhalb Jahre blieb Omar nach seiner Verletzung in Damaskus. Auf Krücken gestützt konnte er noch stehen, damals. Er habe gehofft, dass es besser wird. Aber in Syrien habe es niemanden gegeben, der diese Hoffnung am Leben erhalten konnte, die Ärzte seien geflohen. Also machte Omar sich auf den Weg, zusammen mit seinem Bruder Bassam (Name geändert). Bassam war damals 14. Ihr Ziel: Deutschland, eineinhalb Jahre, bevor Angela Merkel zu Mama Merkel wurde. Weil Omar gehört hatte, dass Deutschland das "Land der Ärzte" sei.

Der Schleichweg habe über die türkische Grenze geführt durch die Berge. Ein Schleuser habe Omar getragen - und dafür einen hohen Aufpreis verlangt. Bassam trug den Rollstuhl. Vier Monate blieben sie in Istanbul, dann warteten sie acht Monate in Mersin vergeblich auf eine Überfahrt nach Italien. Also doch Griechenland, auch wenn ihm alle abrieten. "Viel zu gefährlich, die Boote sind überfüllt, die Menschen ertrinken, du als Erster", hieß es. Omar ließ sich nicht entmutigen: "Die Leute sollen wenigstens sagen, dass ich mich nicht aufgegeben habe." Zwei Männer trugen ihn ins Boot, der Rollstuhl jedoch passte nicht mehr hinein. In Griechenland kaufte er sich einfach einen neuen.

Der minderjährige Bruder war die größte Stütze

Während Omar erzählt, sachlich, chronologisch, als berichte er aus dem Leben eines anderen, klopft es an der Tür. Ein Pfleger bringt das Abendessen, unter einer Plastikglocke stellt er es vor Omar. Der sieht nicht einmal nach, was es gibt. Auf seinem Smartphone schaut er manchmal deutsches Fernsehen. Er versteht nichts, aber er vermutet, dass die Deutschen das Essen lieben, vor allem Fleisch und Kartoffelbrei. Wegen der vielen Kochsendungen. Omar liebt das deutsche Essen nicht. Er würde das aber nie sagen.

Bassam ist zu Besuch. Omars Bruder ist jetzt 15, groß, dünn, die schwarzen Haare kurz, der Bart über der Oberlippe wie hingehaucht. Bassam hat Reis mit Sauce in einer Plastikdose mitgebracht, dazu Gummibärchen, Schokolade, Lebkuchenherzen. Bassam ist überzeugt, dass sein Bruder zu wenig isst. Also hat er ihm etwas gekocht in dem Haus am Rand von München, das er mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bewohnt.

Der kleine Bruder als Beschützer

Unbegleitet, minderjährig, diese Behördenworte bekommen einen ganz anderen Klang bei einem wie Bassam, der auf der Flucht selbst zum Begleiter werden musste, zum Beschützer, zum großen Bruder. Er hat Omar geschoben und getragen, er hat sich um ihn gesorgt und ihm gut zugeredet. Natürlich habe er manchmal Angst gehabt, sagt Bassam, natürlich sei er überfordert gewesen. Aber es musste sein.

Über die Balkanroute seien sie mit dem Bus gereist, mit dem Zug, zu Fuß. An der ungarischen Grenze ging es nicht weiter. Fünf Tage und Nächte verbrachte Omar in seinem Rollstuhl, wie er sagt. Vielleicht infizierten sich hier seine Wunden, vielleicht wurde die Infektion hier nur schlimmer. Omar ging es jeden Tag schlechter. "Lass dich behandeln", drängte Bassam.

"Wenn Gott will", sagte Omar, "dann schaffe ich es nach Deutschland." Seine Schmerzen betäubte er mit Tabletten, seine Wunden versteckte er, vor den anderen und vor sich selbst. Dass die Infektion seine Wirbelsäule freigelegt hatte, dass die Granate zum zweiten Anschlag auf sein Leben ansetzte, wusste er nicht, er wollte es nicht wissen. Bloß nicht ins Krankenhaus. Hätten sie ihn registriert, wäre sein Ziel Deutschland unerreichbar geworden. In Europa nennen sie dieses System Dublin III.

Nur ein junger Mann kann die Tortur überleben

Erst als ein Arzt ihn an der slowenischen Grenze entdeckte und ihm den Ernst der Lage klarmachte, gab Omar nach. Ein Krankenwagen brachte ihn in ein slowenisches Krankenhaus. Drei Krankenwagen, organisiert von freiwilligen Helfern aus München, brachten ihn über Österreich nach München. An jeder Grenze einmal umsteigen. Als Omar in Bayern ankam, sei er nur noch Haut und Knochen gewesen, sagt sein Arzt Reza Ghotbi. Die Wunde hatte sich wie ein "Fuchsbau" in seinen Rücken gefressen, Omar litt an einer Blutvergiftung. Ein älterer Mann hätte das nicht überlebt.

Zweimal wurde Omar operiert, alle fünf Tage werden die Verbände gewechselt. Die Wunden verheilen, und langsam fasst Omar Vertrauen, sagt Ghotbi. Am Anfang habe er niemandem getraut. Das Drama, das sich im Kopf eines Menschen abspielt, der plötzlich auf die Hilfe anderer, fremder Menschen angewiesen ist, sei oft viel schlimmer als die Verletzung selbst, erklärt der Arzt.

Seit sieben Wochen ist Omar jetzt in München. Wenn alles gut geht, wird er bald in eine Spezialklinik überwiesen. Und irgendwann, hofft Omar, entdeckt er auch das Land, in dem er jetzt lebt, das er aber bisher nur als Blick durchs Fenster kennt. Erst einmal hat er sein Krankenzimmer verlassen, heimlich, zum Rauchen. Er wurde erwischt, seitdem passen sie genau auf. Für Ahmad Omar ist Deutschland immer noch das, was es schon von Syrien aus war: das Land der Ärzte.

"Nach der ersten Hilfe - wie sich Deutschland durch die Flüchtlinge verändert": Diesem Thema widmen sich namhafte Politiker und Experten am 9. Dezember bei einer gemeinsamen Konferenz der Körber-Stiftung und der Süddeutschen Zeitung in Zusammenarbeit mit dem Norddeutschen Rundfunk in Hamburg. Den Livestream zur Veranstaltung finden Sie auf SZ.de. In unserem Dossier haben wir für Sie besondere Beiträge rund um das Thema "Flucht nach Deutschland" zusammengestellt - hier mehr lesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: