München:Warum eine 95-Jährige immer noch täglich Englisch unterrichtet

München: Die Texte für die Hausaufgaben tippt sie ganz altmodisch auf ihrer Schreibmaschine. Am liebsten jedoch erinnert sie sich an die Zeit, als sie auf der Bühne stand - als Emilia Galotti zum Beispiel.

Die Texte für die Hausaufgaben tippt sie ganz altmodisch auf ihrer Schreibmaschine. Am liebsten jedoch erinnert sie sich an die Zeit, als sie auf der Bühne stand - als Emilia Galotti zum Beispiel.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Fünf Mal die Woche steht Ursula Bode-Rudolph vor ihrem Kurs. Nachlässigkeit duldet sie nicht - weder bei ihren Schülern noch bei sich selbst.

Von Jana Heigl

Das weiße Regal in dem kleinen, lichtdurchfluteten Raum reicht bis unter die Decke. In ihm reiht sich Marquez an Dostojewski und Schiller an Victor Hugo - "Les Miserables" ist das Lieblingsbuch von Ursula Bode-Rudolph, sie hat es bereits auf Deutsch, Französisch und Englisch gelesen. "Wollen Sie auch einen Piccolo?", fragt sie vergnügt, bevor ihr Blick liebevoll auf dem überquellenden Bücherregal ruhen bleibt. Sie sprüht vor Leben, in ihrem himmelblauen Kleid mit den weißen Punkten und den Lachfältchen, die sich bei jedem herzhaften Lachen noch etwas vertiefen. Ihr Alter sieht man ihr gar nicht an. Trotz ihrer stolzen 95 Jahre und des Umzugs in ein Nymphenburger Seniorenwohnheim gibt sie fünfmal die Woche Englisch-Unterricht. Wenn sie von ihren Kursen spricht, blitzen ihre wachen Augen vor Lebensfreude.

"Die anderen Bewohner verstehen das überhaupt nicht", erzählt Bode-Rudolph, eine der Ältesten im Heim. "Ich kann aber nicht ohne. Ich bin dahingesiecht ohne." Es widerstrebt ihr, den Tag ohne Ziel zu beginnen, wie das manche Bewohner tun. Den Drang zur Selbstoptimierung kann sie selbst im Alter nicht ablegen. Nachlässigkeit duldet sie auch bei ihren Schülern nicht. "Sie ist eine liebenswürdige, engagierte Frau, aber sie ist auch dahinter, dass die Stunde nicht versandelt wird", sagt Michaela Bachmeier, eine Mitarbeiterin des Alten- und Service-Zentrums am Sebastiansplatz, wo Bode-Rudolph seit Jahren einen Englisch-Kurs anbietet. "Sie macht das aber mit viel Charme."

Die Freude am Unterrichten ist ihr Lebenselixier. Jede Woche tippt sie - ganz altmodisch auf der Schreibmaschine - Sätze für ihre Schüler, die diese als Hausaufgaben aufbekommen. Wenn die Aufgaben in der darauffolgenden Woche nicht erledigt sind, ist sie nicht glücklich: "Wir sind hier, um Englisch zu lernen!", schimpft sie dann. Marina Bedaçnik ist 55 Jahre alt und hat gerade das Abitur nachgeholt. Mithilfe von Bode-Rudolph hat sie die Englisch-Prüfung bestanden. "Sie ist Lehrerin durch und durch", sagt Bedaçnik. "Das Wichtigste für sie ist, wie sie zu ihren Kursen kommt."

Das war nicht immer so. Die erste Hälfte ihres Lebens widmete Bode-Rudolph leidenschaftlich der Schauspielerei. Nachdem sie das Abitur kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Dresden gemacht hatte, bekam die junge Frau, die damals noch Ursula Bode hieß, Schauspielunterricht bei der bekannten Schauspielerin Lucie Höflich an der Ostsee, weit weg vom Bombenregen über ihrer Heimatstadt. "Ich hatte immer schon eine Faszination für das Schauspiel", sagt sie. "Ich habe, ob sie es hören wollten oder nicht, in der Klasse oft die Verrückte gespielt. Meine Lehrerin wollte mich dann ins Krankenhaus schicken." Bei der Erinnerung daran intensivieren sich die Fältchen um die Augen noch ein bisschen mehr, denn sie muss laut loslachen.

Die Ausbildung zur Schauspielerin empfand die junge Frau als absolute Freiheit. Noch heute bekommt sie einen weichen Blick, wenn sie über diese Zeit spricht. Gegen Ende des Kriegs spielt sie ihre erste Rolle. Als die Theater ein halbes Jahr vor Kriegsende schließen mussten, kam sie zum Arbeitsdienst in eine Dresdner Druckerei. Dort entrann sie knapp dem Tod: Durch einen Zufall tauschte die junge Schauspielerin die Nachtschicht mit einer älteren Frau. In dieser Nacht versank Dresden im Bombenhagel, die Druckerei wurde zum Gefängnis. Die Frau, mit der Bode getauscht hatte, überlebte den Angriff nicht. Ein trauriges Kapitel im Leben der 95-Jährigen.

Weil Dresden zerstört war, floh die Familie nach Österreich und kam erst auf Umwegen wieder zurück nach Deutschland. Bei einem Engagement in Göttingen lernte sie Manfred Rudolph kennen. Die beiden heirateten und landeten in München, wo ihr Mann als Regieassistent am Residenztheater arbeitete. Sie selbst tingelte von einem Engagement zum anderen. In Konstanz durfte sie Lessings "Emilia Galotti" spielen - ihre Lieblingsrolle. "Ich habe mich reingedacht in die Figur", sagt sie.

München: Alles in Ordnung: Unterricht vorbereiten, die Pillen nicht vergessen. Ursula Bode-Rudolph stellt an sich und an ihre Schüler hohe Ansprüche.

Alles in Ordnung: Unterricht vorbereiten, die Pillen nicht vergessen. Ursula Bode-Rudolph stellt an sich und an ihre Schüler hohe Ansprüche.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Dann, sie war schon über 50, die beiden Töchter fast erwachsen, kam die Wende: Sie fing an, Deutsch und Englisch auf Lehramt zu studieren. "Lehrerin bin ich nur geworden, weil mein Mann da gerade keinen Job hatte", sagt sie, "da musste schnell Geld her." Sie bestand das Staatsexamen in den 1970er-Jahren und unterrichtete bis zur Rente an Gymnasien, dann konzentrierte sie sich auf ihre privaten Kurse. Die Freude am Unterrichten hat sie sich bewahrt - auch wenn sie heute noch sagt, dass sie auf der Bühne am glücklichsten war.

In ihren Kursen sitzen meist Frauen. "Die Männer sind uninteressiert, wenn sie älter werden", vermutet Bode-Rudolph. Frauen seien in dem Alter noch flexibler, sagt sie. Ihre Schüler bewundern ihre Energie, für sie ist die 95-Jährige eine Inspiration. "Sie lässt sich nicht hängen und lebt, als gäb's kein Morgen mehr", sagt Marina Bedaçnik. Vor zwei Jahren, im Alter von 93, brach sich Bode-Rudolph zwei Wirbel. Trotzdem versuchte sie noch, sich zu ihrem Englischkurs nach Giesing zu schleppen. "Das war furchtbar", sagt sie.

Einmal noch eine Rolle spielen

Neun Wochen Krankenhausaufenthalt folgten, danach entschied sie sich für das Seniorenheim. Die Umstellung war hart. Vor allem, weil sie sich vom Großteil ihrer Bücher trennen musste, für die in dem 30 Quadratmeter großen Zimmer einfach kein Platz mehr war. Sie war und ist ein Büchernarr. Früher legte sie sich in Antiquariaten auf den Boden, um an die besten Schätze kommen. Das schafft sie heute natürlich nicht mehr, doch die Verbundenheit zu den Schmökern ist ihr geblieben.

Einmal noch eine Rolle spielen, das wäre ein Traum für Ursula Bode-Rudolph, aber für ihr Alter gebe es da nicht so viele. "Aber", sagt die 95-Jährige schmunzelnd, "eine 80-Jährige würde mir schon reichen".

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