München:Vom Wandel eines Glasscherbenviertels

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In den Siebzigerjahren war Haidhausen noch ein Armeleute-Viertel, der Mietpreis lag bei 2,50 Euro für den Quadratmeter - heute ist es eine der teuersten Gegenden der Stadt. Eine Ausstellung im Gasteig beleuchtet die Geschichte des Stadtteils seit dem zweiten Weltkrieg

Von Johannes Korsche

Es ist der 4. August 1971. Gleich zwei Premieren ereignen sich an diesem Tag in Haidhausen: "Seit 15.55 Uhr ist die Deutsche Bank von einer schwer bewaffneten Gruppe der Roten Front besetzt", heißt es in dem damaligen Polizeireport. Dimitri Todorov und Hans Georg Rammelmayr stürmen mit einem Maschinengewehr bewaffnet die Filiale der Deutschen Bank an der Prinzregentenstraße 70. Sie nehmen 17 Angestellte und einen Kunden als Geiseln. Ihre Forderung: zwei Millionen Mark und ein Fluchtfahrzeug. Es ist der erste Banküberfall mit Geiselnahme in der Nachkriegszeit.

An der Prinzregentenstraße explodiert währenddessen auf Geheiß der Geiselnehmer eine Sprengladung, die an einem Trambahnmast befestigt ist. Und gegenüber der Bankfiliale, auf dem Balkon des Feinkost-Geschäfts Käfer, drängen sich die Schaulustigen. "Bei Brötchen und Sekt verfolgt man das Schauspiel", berichtet Hermann Wilhelm, der damals auf dem Heimweg die Menschenmasse vor der Bank bemerkt. Wie bei einem Sportereignis sei das Geschehen mit Beifall, hämischen Bemerkungen und Pfiffen begleitet worden, erinnert er sich.

Veränderung als Konstante: Die Innere Wiener Straße ist 1983 wegen des U-Bahn-Baus eine Slalom-Strecke - nun rollt schon bald der Bau der zweiten Stammstrecke auf das Viertel zu. (Foto: Haidhausen Museum)

Es sind Geschichten wie diese, die der Ausstellungskurator und Leiter des Haidhausen-Museums, Hermann Wilhelm, für seine aktuelle Ausstellung "Der vielleicht spannendste Stadtteil Münchens - Haidhausen!" in der Glashalle des Gasteig-Kulturzentrums zusammengetragen hat.

Dabei ist es durchaus ambitioniert, mit einer Schau die Geschichte des Stadtviertels vom Zweiten Weltkrieg bis in die Neunzigerjahre ausführlich zu beleuchten. Denn Haidhausen hat oft strukturelle Wandlungen durchlebt: vom Vergnügungsviertel der amerikanischen Soldaten in den Nachkriegsjahren über die Ankunft der ersten Gastarbeiter am Ostbahnhof bis zum Großbrand der Mälzerei der Hofbrauerei an der Inneren Wiener Straße im April 1987. Wilhelm hat den Ereignissen im Viertel und dessen Wandel nachgespürt, dabei nahezu minutiös dokumentiert. Großformatige Fotos, Mietbücher oder Flugblätter hat er dafür zusammengetragen, um die "unglaublichen Veränderungen" zu dokumentieren, wie Wilhelm sagt. Für ihn erzählt seine Ausstellung "Geschichte wie in einem Brennglas". Die Ausstellung ist aber noch mehr: Sie dokumentiert auch das heutige Haidhausen und seine Bewohner.

Nicht von ungefähr lässt Wilhelm Anekdoten aus dem Viertel einfließen. Wie eben die Geiselnahme vom April 1971, als die "Tagesschau" erstmals per Live-Schalte berichtet: Rammelmayr wird erschossen, auch eine Geisel stirbt. Der zweite Geiselnehmer Todorov wird verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Er kommt erst 1993, nach 22 Jahren Haft, wieder frei.

Wilhelm erzählt aber auch von schönen Premieren. So eröffnet das erste Münchner Kabarett nach dem Zweiten Weltkrieg in Haidhausen. Nur acht Monate nach Kriegsende ist die Premierenvorstellung im "Bunten Würfel" an der Preysingstraße 42 ausverkauft. Gegründet haben das Kabarett zwei Überlebende der Konzentrationslager Theresienstadt und Dachau, Robert "Bobby" John und Viktor Hahn. Sie engagieren für das erste Programm "München lernt wieder lachen" unter anderem den späteren James-Bond-Bösewicht und Weltstar Gert Fröbe, der für ein paar Monate nach dem Krieg an der Trogerstraße wohnt. Fotos aus der damaligen Zeit zeigen den gewaltigen Besucher-Ansturm, der bis weit vor die Einlasstür reicht, sowie Gert Fröbe auf der Bühne. Heute ist dort, wo einst "Der Bunte Würfel" war, ein Supermarkt, bemerkt Wilhelm, durchaus etwas wehmütig.

1981 demonstrieren Aktivisten auf der Steinstraße gegen steigende Mieten. (Foto: Haidhausen Museum)

Bereits da scheint etwas durch, was das Viertel von jeher und noch heute prägt: die stetige Veränderung. Denn so manches, von dem Wilhelm erzählt, kommt seltsam aktuell daher. Da ist zum Beispiel die Geschichte vom Bau des Gasteig-Zentrums. Denn dort, wo sich heute der Konzertsaal der Philharmonie befindet, war früher das "Gasteig-Spital", ein städtisches Altersheim. 1974 steht es leer, und es gibt Konzertsaal-Pläne. Aber die Haidhauser wehren sich gegen den Abriss des Gasteig-Spitals und wollen dort ein selbstverwaltetes Bürgerzentrum einrichten. Sie besetzen das Haus - und lassen im Mai 1975 wegen des geplanten Baus eine Bürgerversammlung platzen. Ähnlich verlief die erste Stammstrecken-Bürgerversammlung, die diesen Februar ebenfalls am Veranstaltungsabend verschoben werden musste. Damals, 1975, attestierte die Süddeutsche Zeitung den Haidhausern, angesichts der wohl tumultartigen Szenen die "undisziplinierteste und niveauloseste Bürgerversammlung abgehalten zu haben, seitdem es Bezirksausschüsse gibt".

Auch den Wandel Haidhausens vom Glasscherbenviertel zu einer der teuersten Wohngegenden der Stadt dokumentiert Wilhelm. "In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden wir plötzlich ,in'", erinnert er sich. Plötzlich sei Haidhausen als das "neue Schwabing" bezeichnet worden. Kneipen, Kleinkunstbühnen, Kinos und Künstler-Wohnungen an nahezu jeder Ecke - in einem Wort: Bohème. Ende der Siebzigerjahre läuft schließlich die gesetzliche Mietpreisbindung für Altbauwohnungen aus. 2,50 Mark habe man damals noch pro Quadratmeter gezahlt, erinnert sich Wilhelm. Viele Alteingesessene und notorisch klamme Bewohner werden in den nächsten Jahren aus dem Viertel verdrängt. Haidhausen wird zum "Modellsanierungsgebiet" der Stadt - und Künstler wie Jörg Hube, der damals als "Stadtteil-Indianer" an der Inneren Wiener Straße wohnt, kritisieren, dass im Viertel fortan "luxussaniert" wird. Eine Beobachtung, die an manchen Orten im Viertel noch immer aktuell ist.

Die Mieten waren 1955 noch niedrig, als das Quartier "In der Grube" noch nahezu dörflich anmutet. (Foto: Haidhausen-Museum)

Zudem verändern über die Jahrzehnte große Bauprojekte das Viertel. Der alte Ostbahnhof wird abgerissen und neu aufgebaut, der Max-Weber-Platz bekommt eine U-Bahn-Station. Die Häuser der Hofbrauerei entlang der Inneren Wiener Straße werden abgerissen, und die Bayerische Hausbau errichtet dort "gehobenes Wohnen", erinnert sich Wilhelm. Die Eigentumswohnungen seien trotz Spitzenpreisen problemlos verkauft worden - mit Blick auf das Paulaner-Areal noch so eine Parallele zu heute.

Die Ausstellung "Der vielleicht spannendste Stadtteil Münchens - Haidhausen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der 1990er Jahre" ist von Sonntag, 17. Dezember, von 11 Uhr an bis Donnerstag, 18. Januar, im ersten Stock des Gasteig-Zentrums zu sehen. Der Eintritt ist frei.

© SZ vom 16.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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