München:Träume in der Trümmer-Kulisse

Theaterprojekt 'Giesing - das unterschätzte Viertel'

In "Giesing - das unterschätzte Viertel" wird die Entwicklung des Stadtteils von 1945 bis heute nachgespielt - als Vorlage dienten Interviews.

(Foto: Lukas Barth)

Was erhofften sich die Giesinger in der Nachkriegszeit, wie meistern sie die Gegenwart? Eine Performance spürt Geschichten und Geschichte eines unterschätzten Viertels nach

Von Franziska Gerlach

Hübsch ist sie ja, die Eva. Ein leicht gebräunter Teint, ein ebenmäßiges Gesicht. Doch um einen amerikanischen Soldaten abzubekommen, reicht das nicht aus, das ist der jungen Frau bewusst. "Du musst mehr Englisch mit mir reden, ich will auch so einen abhaben", bittet sie ihre Freundin. Denn die Erna, die jetzt aufgeregt zwischen den weißen Stellwänden im alten Giesinger Bahnhof hin- und herläuft, hat so einen bereits an ihrer Seite. Einen, der ihr Beachtung schenkt und Schokolade. Spätestens, wenn sie ihr fuchsrotes Haar über die Schulter wirft, und sich von ihrer Freundin dafür "Ami-Flitscherl" nennen lassen muss, wird dem Besucher der Probe klar, wie die Erna das wohl angestellt hat - und dass die Szene im Giesing der Fünfzigerjahre angesiedelt ist.

"Giesing - das unterschätzte Viertel" heißt die Produktion mit Performance-Charakter. Und natürlich geht es darin um weitaus mehr als den Umstand, dass der gemeine Giesinger seinerzeit nicht sonderlich gefragt war beim anderen Geschlecht. Der Zuschauer begibt sich darin auf eine Reise durch die Giesinger Geschichte von 1945 bis in die Gegenwart. Dabei handelt es sich um eine Koproduktion des Kulturzentrums Giesinger Bahnhof und des Vereins "Ensemble La Vie - das Leben". Die fünf Schauspieler kommen aus München, Regisseur René Rothe hingegen aus Dresden. Und das irritiert, zunächst. Immerhin geht es um Stadtteilgeschichte, darum, dem Publikum das viel beschriebene Lokalkolorit in der richtigen Dosis anzubieten.

Das stellt wohl selbst für hiesige Regisseure eine Herausforderung dar. Wie fühlt sich also einer in einen Münchner Stadtbezirk ein, der gar nicht aus München kommt? "Ich schaue mir gerne die Gegend an, ich schaue mir gerne die Menschen an, und ich interessiere mich für ihre Geschichten", sagt Rothe. Zwar kenne er München eher als Tourist, Giesing aber dafür mittlerweile sehr gut. "Ich glaube, man unterschätzt die Menschen, die hier leben." In seinen Augen ist es gerade das Multikulturelle, was den Stadtteil auszeichne, aber auch, dass sich die Menschen hier vermischen und versuchen, der Gentrifizierung zu trotzen. Die Chemie zwischen Künstler und Sujet stimmt offenbar. "Das ist ein Viertel, in dem ich leben könnte", sagt er.

In "Giesing - das unterschätzte Viertel" leitet Stadtführerin Heidemarie den Zuschauer nach Art eines Parcours durch 21 Stationen in und um den Bahnhof herum. Auch ein Gedicht des Giesingers Werner Schlierf hat Eingang gefunden in die ungewöhnliche Inszenierung. Den zwei bis zehn Minuten langen Stücken liegen 14 Interviews mit Stadtteilbewohnern im Alter von etwa 30 bis 80 Jahren zugrunde. "Ich wollte Geschichten von Giesingern aufzeigen", sagt Rothe. Von Alteingesessenen genauso wie von Zugezogenen. Den Abschluss - die Jetzt-Zeit - bildet eine Videoinstallation, in der Giesinger über ihr Viertel sprechen; den zweiten und größten Teil die Entwicklung von 1950 bis 2000. An der Außenwand schaffen große Bilder die Trümmer-Kulisse der Nachkriegszeit.

Allzu lange will Regisseur Rothe das Publikum aber nicht der Tristesse dieser Jahre überlassen. Also trägt ein Schauspieler bei Station 4 den "Hoffnungsmonolog" vor. "Von vorne wird begonnen, die Vögel fliegen wieder", lauten dessen letzte Zeilen. Positiv bleiben, in die Zukunft blicken, das schwingt als Botschaft darin mit. In den Interviews mit Zeitzeugen hat Rothe erfahren, dass die Erlebnisse des Krieges verdrängt oder klein geredet wurden. In Ruinen aufgewachsen? Wir doch nicht. "Die Verklärtheit der Erinnerung", nennt Rothe das Phänomen. Der Regisseur ist ein guter Beobachter, und wie erfrischend es sein kann, wenn jemand einen unvoreingenommenen Blick auf ein Stadtviertel wirft, merkt man an den Textpassagen, mit denen von einer Dekade in die nächste übergeleitet wird. Zwar sei es den Leuten nach dem Krieg allmählich besser gegangen. "Ihre Herzen verhärteten sich aber mit jeder Gehaltserhöhung, das Fernsehzeitalter brach an, und mit ihm der Stress und die Ellbogenkarrieren", heißt es im Stück.

Weil Eva und Erna die Bahn verpasst haben, recken sie an der Ehrhardstraße ihren Daumen in die Höhe, in der Hoffnung, dass einer sie dorthin mitnimmt, wo man US- Soldaten kennenlernen kann. Was waren das für Frauen, wovon träumten, worauf hofften sie? Anja Neukamm alias Erna steht jetzt ganz still da, die Worte aber sprudeln nur so aus ihr heraus. Eine Zeitzeugin habe erzählt, dass sie "mit 15, 16, 17" immer als Damen verkleidet ausgegangen seien. "Die haben das angezogen, was sie bei Schauspielerinnen im Kino gesehen haben", sagt sie. Lange Handschuhe, Kostüme, manchmal trugen sie einen Samthut.

Nach den Entbehrungen des Krieges galt es eben einiges nachzuholen. Da ging es um Kompensation, vielleicht darum, das eigene Ego mit einem amerikanischen Liebhaber aufzuwerten. Es ist ihnen nachzusehen, der Erna und der Eva, dass sie in ihrem jugendlichen Enthusiasmus die Giesinger wohl einfach unterschätzt haben.

Die Vorstellungen finden am Freitag, 22. Mai, um 20 Uhr und am Samstag, 23. Mai, um 18 und 20 Uhr statt. Karten kosten zwölf Euro. Die Premiere am Freitag, 22. Mai, um 18 Uhr ist bereits ausverkauft.

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