München:Spurensicherung

Ob Regenrohr, Verkehrsschild oder Verteilerkasten: Überall sind in Giesing Aufkleber der Ultra-Fans des TSV 1860 München zu finden. Der Sprachwissenschaftler Fabian Bross dokumentiert die Sticker und zeichnet so den Weg von Subkulturen nach

Von Helena Ott

Mit Schildmütze, Hemd und schwarzer Fliege läuft Fabian Bross die Tegernseer Landstraße am Giesinger Stadion entlang. Bei einem Halteverbot-Schild bleibt der 33-Jährige stehen, holt sein Handy aus der Jeans, zoomt auf drei faustgroße Aufkleber. Alle drei sind blau umrandet, zeigen Bayernkaros oder den Münchner Löwen. In der Mitte die Slogans: "Löwenfans gegen Rechts" - "Scheiß Bayern. München ist blau" - "Panzerknacker". Fabian Bross ist Sprachwissenschaftler, doch am Wochenende wird er zum Jäger und Sammler.

Er setzt seinen Streifzug fort: Nach wenigen Metern wieder ein Aufkleber, den er noch nicht kennt. Kaum ein Regenrohr, ein Verkehrsschild oder ein Stromzählerkasten bleibt verschont. "Giesing ist blau", wollen die Ultras des TSV 1860 München damit sagen. Doch die Aufkleber zeigen nichts von dem jüngsten Desaster der Relegation. Abstieg. Gewaltbereite Ultras, die Sitzschalen und Stangen auf das Spielfeld werfen.

Bross zieht weiter. Der Street-Art- Fotograf ist kein eingefleischter Löwen-Fan, er hat auch keine Vorurteile gegenüber Ultras. Und er weiß: Die Giesinger Ultra-Gruppen sind zersplittert; doch die Bilder vom Relegationsspiel dürften das Ultra-Stereotyp vom gewaltbereiten Fan genährt haben. Aber Fabian Bross interessiert sich für jegliche Subkulturen: Graffiti, kunstvolle Schriftzüge, Schmierereien, mit Schablonen gesprühte Tiere oder Figuren auf der Straße sind sein Spezialgebiet.

Was ihm auffällt, hält er mit der Spiegelreflex-Kamera oder dem Handy fest, um dann die Bilder auf 30 verschiedenen Blogs und Fotoalben im Internet zu teilen. "Ich war schon immer der Typ, den Kleinigkeiten fasziniert haben", beschreibt Bross seine Motivation, sein Blick scannt dabei den Weg, "mich interessieren Gebrauchsspuren von Menschen". Und so sind für ihn auch herrenlose Fahrradschlösser an Geländern und Laternen ein Foto wert.

Um solche Spuren sammeln zu können, geht der Dozent für Sprachwissenschaften oft eine Stunde früher aus dem Haus. Mit den Aufnahmen will er zeigen, welche Subkulturen in München aktiv sind, wie sie sich durch die Stadt bewegen: Anti-Atomkraft-Aktivisten, Gentrifizierungsgegner, Fangruppen, Neonazis, Mitglieder der Antifa - und eben Ultras. Sie alle lassen in hundertfacher Ausführung Aufkleber drucken und markieren ihre Wege durch die Stadt. Bross dokumentiert sie. Sorgen machen ihm immer mehr schwarz-gelbe Exemplare: "Seit Anfang des Jahres gibt es enorm viele Sticker der Identitären." Die bundesweit agierende rechte Gruppierung hat einen einheitlichen Look: ein gelbes Lambda auf schwarzem Hintergrund, gepaart mit fremdenfeindlichen Slogans wie "Illegale und Islamisten nach Hause schicken".

In Obergiesing aber dominiert der Fan-Kult, Fabian Bross bleibt jetzt öfter stehen. An einem Kioskfenster entdeckt er einen großen, verblichenen Sticker: "Mit dem Rücken an der Wand, doch immer wieder oben auf." Sebastian Drescher vom Fanprojekt München, der den Streetart-Fotografen auf seiner Tour begleitet, hat diese Zeile schon häufig im Stadion gehört, sie ist Teil des weitverbreiteten Fan-Gesangs "Leib und Seele" der blauen Ultras. Drescher betreut rund 200 jugendliche Ultras und solche, die es werden wollen, bei Heim- und Auswärtsspielen. Er weiß: Wie bei den Biker-Clubs muss man sich in Ultra-Kreisen erst beweisen, um aufgenommen zu werden - Sticker kleben gehört dazu. Das Wichtigste ist aber, bei jedem Spiel dabei zu sein - wem es gelingt, einen Schal einer gegnerischen Fan-Gruppe zu stehlen, der steigt im Ansehen. Bayern-Sticker findet Bross an diesem Tag keine in Giesing, die werden in kürzester Zeit von den Blauen überklebt. Wenn ein Bayernfan beim Kleben beobachtet wird, ist das nicht selten Anlass für Pöbeleien, im schlimmsten Fall wird geprügelt.

Slogans wie "Tod und Hass dem FCB" - einen gleichlautenden Sticker gibt es auch von Bayern-Fans gegen die 1860-Fans - geben Bross Hinweise auf das Aggressionspotenzial. Andere Aufdrucke zeigen aber auch antirassistische und homophobe Strömungen. Beim Streifzug durch Giesing erklärt Fanprojektleiter Sebastian Drescher, warum die Aufkleber der "Cosa Nostra" und der "Giasinga Buam" - beides blaue Ultragruppen - langsam vergilben. Die Cosa-Nostra-Mitglieder hatten sich nicht mit dem jordanischen Investor des TSV 1860 und dem Umzug in die Allianz-Arena anfreunden können. Zuerst boykottierten sie die Arena, im vergangenen Sommer lösten sie sich auf. Die Giasinga Buam dagegen hatten keine Wahl: Bei einem Testspiel der Sechzger gegen Dortmund stahlen Bayern-Fans ihre Fahne. Das Aus für jede Fan-Gruppe, strenge Ultra-Regel.

Doch es gibt auch Neugründungen. Seit Anfang der Saison sieht man viele Aufkleber mit weißen Löwenköpfen auf marineblauem Grund. Mit riesigen Fahnen, einstudierten Gesängen und Choreografien heizen die "Münchner Löwen" die Stimmung im Stadion an. Wie sie den Abstieg verdauen, ist noch unklar.

Ein großer Oberleitungsmast an der Tegernseer Landstraße trägt nicht einen Sticker. Warum das so ist, entdeckt Fabian Bross schnell: "Videoüberwachung" steht auf dem Schild im gegenüberliegenden Schaufenster. Denn erwischen lassen darf man sich beim Stickerkleben nicht, sonst droht eine Geldbuße. "Wenn die Sticker hartnäckig sind und sich nicht lösen lassen, fällt das sogar unter Sachbeschädigung", erklärt Wolfgang Behr von der Münchner Polizei.

In den vergangenen Monaten hätten sich immer mehr Giesinger wegen der Schmierereien und Aufkleber beschwert, die Polizei patrouillierte mehrfach in Zivil. Drei jugendliche Sprayer konnten überführt werden; auch sie sind Teil der Ultra-Gruppe, die Sebastian Drescher betreut.

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