München:Offene Festplatte

Nur keine Orient-Klischees: Das erste türkische Festival "Türkiye reloaded" in der Pasinger Fabrik will junge Künstler präsentieren und zeigen, was in dem Land am Bosporus steckt

Von Jutta Czeguhn

Türkiye - face to face, from Munich to Istanbul, inside Türkiye, identities of Türkiye. . . Frank Przybilla hat ein Blatt Papier auf den Tisch in seinem Büro gelegt. Eine Streichliste. "Noch nie ist es uns so schwer gefallen, einen Titel zu finden", seufzt der Geschäftsführer der Pasinger Fabrik. Der Zettel mit den verworfenen Vorschlägen erzählt viel darüber, welche Herausforderung dieses aktuelle Projekt für ihn und sein Team ist: Ein mehrwöchiges Kulturfestival mit Länderschwerpunkt Türkei - wer so etwas in diesen Zeiten anpackt, sollte nicht an Konzepten kleben. Auch keinen schwerfälligen Apparat hinter sich herziehen, denn wenn sich, wie nach dem Putschversuch im vergangenen Juli, die Dinge überschlagen, dann kommt plötzlich alles auf den Prüfstand. "Türkiye reloaded" heißt das Festival nun, das an diesem Mittwoch, 12. Oktober, startet.

Reload, im Deutschen nachladen: Hört sich das nicht ein klein wenig martialisch an? Frank Przybilla kräuselt die Stirn. Er und seine Kollegen waren im Mai in Istanbul, in dieser vibrierenden Kulturstadt am Bosporus trafen sie Künstler, von denen viele nun nach Pasing kommen werden. Gerade mal sechs Monate ist das her, und doch irgendwie ferne Vergangenheit. Enorm viel ist seither geschehen; die Erdoğan-Böhmermann-Affäre spitzte sich zu, der EU-Türkei-Flüchtlingspoker zeigte das wahre Gesicht der Spieler, es gab Terror-Anschläge, dann den Putschversuch. Intellektuelle und Journalisten wurden verhaftet, Verlage geschlossen, Kunstbiennalen abgesagt, kollektive Lähmung, Einigeln in Selbstzensur.

Sehr sensibel mussten die Kuratoren aus München nun also vorgehen, nicht zuletzt, was den Festival-Titel angeht. Er hätte "orient yourself" favorisiert, sagt Frank Przybilla. Doch dieses Wortspiel sei bei den türkischen Gastkünstlern durchgefallen. Nur keine Orient-Klischees, auf diesem Feld tummeln sich Erdoğan und seine Traditionalisten schon genug. "Sie wollen als zeitgenössische Künstler wahrgenommen werden", erklärt Sinem Gökser, die in der Fabrik für die Theatersparte zuständig ist und selbst türkische Wurzeln hat. "Türkiye reloaded", sagt Przybilla, wecke Neugierde, öffne Räume: Die Festplatte Türkei sei sozusagen gelöscht und müsse nun neu beschrieben werden.

Türkei-Festival Pasinger Fabrik Film Köpek -- Geschichten aus Ýstanbul
Schweiz/Türkei 2015 Buch/RegieEsen Iþýk

Ein Plädoyer für Offenheit sind Filme und Videoarbeiten wie "Köpek - Geschichten aus Istanbul"

(Foto: Veranstalter)

Doch von wem? Wer sind die Programmierer? "Wir wollen den türkischen Künstlern mit diesem Festival ein Forum geben, ohne sie zu gefährden, mit diesem Spagat haben wir schon viel Erfahrung", sagt der Fabrikchef, er erinnert an das Teheran-Festival vor zwei Jahren, auch wenn er Iran und Türkei nicht gleichsetzen möchte. Von den 60 Künstlern, die in den kommenden Wochen in der Pasinger Fabrik auftreten, lebt und arbeitet die Hälfte in der Türkei. "Das war uns sehr wichtig", erklärt Przybilla, "wir wollen die Türkei unmittelbar zeigen als junges, spannendes Land".

So sahen es noch bis vor kurzem auch viele Kuratoren und Galeristen, die Istanbul zu einem Hotspot des internationalen Kunstmarktes erklärten. Ob sich die Metropole nun zu einem "frosty spot" hin entwickelt, darauf könnten die Besucher in der Pasinger Fabrik erste Antworten finden. Ceren Erdem, eine namhafte Kuratorin zeitgenössischer türkischer Kunst, hat die Ausstellung zusammengestellt, mit der das Festival eröffnet. "Wider die Grautöne", so der Titel. Unpolitisch, unkritisch klingt anders. Zehn Künstler werden sich mit der immensen Bauwut auseinandersetzen, die der Staatschef der Türkei verordnet hat, mit Istanbul als Zentralbaustelle, in der historische Stadtviertel von jetzt auf gleich unter grauem Beton verschwinden. Eine weitere Ausstellung wird zeigen, wie sich die Istanbuler, Meister der Improvisation seit Jahrhunderten, unter diesen Bedingungen ihre Freiräume suchen.

Auch Selin Sümbültepe hat gelernt, sich durchzuschlagen. Die junge Singer-Songwriterin spielt hin und wieder auf Hochzeiten, wenn das Geld knapp ist. Das Fabrikteam hat sie nach einem langen Tag in einem Istanbuler Café getroffen. Die Müdigkeit verschwand schnell, als die Teilnehmer dieser quirligen Person gegenübersaßen. Selin Sümbültepe, klassisch ausgebildet an der Flöte, wandert gerne durch die Musikgenres. In der Fabrik wird sie ihr Deutschland-Debüt geben (22. Oktober). Das haben Baba Zula längst hinter sich. Es war gar nicht einfach, die Kultband aus Fatih Akins Dokufilm "Crossing The Bridge" über die Musikszene Istanbuls nach Pasing zu holen. Denn Baba Zula sind derzeit auf Welttournee. Im Programmheft werden ganz viele Worte verwendet, um ihre Musik zu beschreiben. Aber alles sinnlos. Baba Zula muss man hören (28. Oktober).

Arzu Yayýntaþ, Video-Still aus ihrem Video "Awakening"

Auch "Awakening" gehört zum neuen türkischen Film.

(Foto: Arzu Yayýntaþ / oh)

Bis auf Sinem Gökser hat keiner auch nur ein Wort verstanden, als das Team in einem der winzigen Hinterhoftheater in Istanbul saß und fasziniert der Gruppe "Proje Difüzyon" zusah. Das reine Frauen-Ensemble wird das Stück "Tevatür" ("Das Gerücht") in Pasing spielen, eine Utopie über die Weiblichkeit. Sinem Gökser ist überzeugt, dass die Schauspielerinnen, die sich ständig hinterfragen, "Tevatür" seit jenem Tag in Istanbul schon wieder um- und weiter geschrieben haben. Sie ist gespannt.

Das Theaterstück wird in Türkisch gespielt, es gibt Übertitel - und Untertitel für eine kleine, aber feine Reihe von türkischen Horrorfilmen. Nur Kenner des Genres werden wissen, in welcher Liga des gehobenen Schockertums die türkischen Filmemacher hier spielen. "Baskin", in dem ein Trupp Polizisten buchstäblich in die Hölle hinabsteigt, hat jedenfalls schon einen US-Verleih bekommen.

55 Seiten dick ist das Programmheft für das Türkei-Festival in der Fabrik, in Deutsch und Türkisch. "Wir konnten uns einfach nicht bremsen, verdammter Enthusiasmus", jammert Frank Przybilla und ist natürlich stolz wie sonst was. Mit diesem wohl zumindest bayernweit einmaligen Projekt liefert die Pasinger Fabrik ein Türkei-Kaleidoskop, das fast nichts auslässt, denn es gibt auch noch Lesungen, Vorträge, Koch- und Sprachkurse, Drachenbasteln und Hip-Hop-Workshops. "Im nächsten Jahr müssen wir das einfach kleiner fahren, Länderschwerpunkt ist dann Böhmen", sagt Enthusiast Przybilla beschwörend. Netter Vorsatz.

Festival "Türkiye reloaded": 12. Oktober bis 27. November, August-Exter-Straße 1. Programminfos und Tickets unter www.pasinger-fabrik.com.

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