Mordprozess Böhringer:Person mit "zwei Gesichtern"

Keine Tatwaffe, einige Indizien, viele Zeugen - der Prozess, der den Mord an der Parkhausbesitzerin Charlotte Böhringer verhandelt, zeigt die Schwächen des Zeugenbeweises und bietet ein Kaleidoskop der Münchner Gesellschaft.

Alexander Krug

Wenn sich Benedikt T. auf der Anklagebank nach vorne beugt, fallen ihm regelmäßig die langen Haare ins schmale Gesicht. Vermutlich nimmt er es gar nicht mehr wahr, wenn er sie mit der immer gleichen Bewegung hinter den Ohren zu bändigen versucht. Benedikt T. beugt sich oft nach vorne, als wolle er die Worte aufsaugen, die die Männer und Frauen auf dem Zeugenstuhl vor ihm zum Besten geben.

63 Zeugen waren es bislang in diesem Prozess, der seit nunmehr vier Monaten das Schwurgericht beschäftigt. Nimmt man einige der Zeugenauftritte zum Maßstab, dann bietet sich hier im Saal A 101 ein Kaleidoskop der Münchner Hautevolee. Vielen scheint ihr eigener Auftritt wichtiger als der Umstand, dass hier um Schuld oder Unschuld, um lebenslange Haft oder Freispruch gerungen wird.

Manchem ist anscheinend nicht bewusst, dass es nicht um ein gesellschaftliches Ereignis, sondern um Mord geht. Und so wächst mit jeder weiteren Aussage der Zweifel am Sinn des sogenannten Zeugenbeweises, der im Strafrecht noch immer eine herausragende Stellung einnimmt.

Benedikt T., 32, ist angeklagt wegen Mordes an seiner Tante Charlotte Böhringer, der "Parkhaus-Millionärin", wie sie umgehend von den Medien tituliert wurde. Böhringer war eine vermögende Frau - und das wurde ihr aus Sicht der Staatsanwaltschaft zum Verhängnis.

Am 15.Mai vorigen Jahres wurde die 59-jährige Geschäftsfrau in ihrer Dachgeschosswohnung des Parkhauses an der Baaderstraße in den frühen Abendstunden mit einem "stumpfen Gegenstand" erschlagen. Wahrscheinlich war es ein Hammer oder eine Brechstange, gefunden wurde die Tatwaffe nie.

Launen und Ausbrüche

Der Täter muss in Rage gewesen sein, er schlug rund zwei Dutzend Mal zu. Das Blutbad machte die Ermittler sicher, es mit einer Beziehungstat zu tun zu haben. Zumal es auch keine Aufbruchspuren gab und keine Wertgegenstände fehlten.

Nur einen Tag nach dem Mord fragte bereits ein Kripobeamter die Verlobte von Benedikt T., ob sie diesem eine "solche Tat" zutrauen würde. Die junge Frau war fassungslos: "Er sagte, ich wäre nicht die erst Frau, die nicht weiß, was ihr Mann so treibt." Die lockeren Redensarten der Ermittler sollten sich fortsetzen. Ein Kriminalbeamter sagte einer Zeugin später bei einer Vernehmung scherzhaft: "Wäre das meine Tante gewesen, hätte ich sie längst erschlagen."

Charlotte Böhringer war eine Frau mit zahlreichen Facetten. Viele Zeugen, vor allem ehemalige Angestellte ihres Parkhauses, lassen kaum ein gutes Haar an ihrer Chefin. De mortuis nil nisi bene - über Verstorbene solle man nur Gutes sagen, dieser Spruch gilt offenbar nicht für Böhringer. Egoistisch sei sie gewesen, geizig, herrisch, aufbrausend, cholerisch, herablassend und besitzergreifend. Selbst Freunde sprechen von der Ermordeten als Person mit "zwei Gesichtern". Einerseits die toughe Geschäftsfrau, andererseits die charmante und perfekte Gastgeberin, die als Witwe schwer mit ihrer Einsamkeit zu ringen hatte.

Die Ermittler stützten sich in ihrer Indizienkette vor allem auf das Bild der dominanten und herrschsüchtigen Böhringer. Unter ihren Launen und Ausbrüchen musste besonders der Lieblingsneffe Benedikt T. leiden. Der 32-jährige Student war finanziell abhängig von seiner Tante, er arbeitete in der Parkgarage und finanzierte sich so - nach außen - sein Jurastudium. Seine tatsächliche Leidenschaft galt indes der Kunstgeschichte.

Böhringer passte dies nicht, sie wollte einen Juristen im Hause, der sie unterstützt und ihr Parkhaus einmal weiterführt. Sie tat auch alles, um ihren Neffen in die Münchner Gesellschaft einzuführen. Dass ihm daran nichts lag, missfiel ihr ebenso wie die Wahl seiner Verlobten. Für Böhringer war sie schlicht die "Ossi-Tussi". Irgendwann, so die Ermittler, war das Maß der Demütigung für den Neffen voll. Als Böhringer auch noch seine Enterbung ins Auge fasste, musste sie sterben.

Brüchige Indizienkette

Garstige Böhringer, gieriger Benedikt, so sieht das Bild der Ermittler aus. Aus Sicht der Verteidiger ist es ein Zerrbild. Die Anwälte Peter Witting und Stefan Mittelbach halten die Indizienkette der Ankläger für brüchig, kritisieren vor allem den Erkenntniswert der vielen Zeugenaussagen. Der sogenannte Zeugenbeweis gilt unter Juristen schon immer als das unzuverlässigste und fehlerträchtigste Beweismittel, das die Strafprozessordnung (StPO) kennt.

Kein anderes ist so anfällig für Verfälschung - etwa durch Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehler oder auch durch Parteilichkeit. "Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme", hat der Begründer der differenziellen Psychologie, William Stern, schon vor mehr als hundert Jahren konstatiert. Dennoch gilt die Zeugenaussage bis heute als das häufigste Beweismittel.

Niemand wird behaupten wollen, dass die Zeugen im Fall Böhringer bewusst die Unwahrheit sagen. Welchen Grund gäbe es auch dafür? Einen Tatzeugen gibt es nicht, also kann niemand den Angeklagten direkt des Verbrechens bezichtigen.

Doch wie verhält es sich mit Aussagen, die - bewusst oder unbewusst - den Ermittlern helfen wollen? Oder, im Gegenteil, den Angeklagten zu entlasten suchen, sei es aus persönlicher Sympathie oder schlicht aus Abneigung gegen jede Art strafrechtlicher Verfolgung. Wie steht es mit der Aussage, die im guten Glauben gemacht wird, sich aber dann nachweislich als falsch herausstellt?

"Vielleicht hab' ich das vergessen"

"Der Irrtum ist der größte Feind der Wahrheitsfindung vor Gericht", konstatierte der Rechtsprofessor Rolf Bender 1982 in einem Aufsatz. Jeder Zeuge kann sich irren, sei es aus Vergesslichkeit, Nachlässigkeit oder auch, weil er von seiner Version überzeugt ist. Hat sich subjektiv ein Eindruck erst einmal festgesetzt, ist die Objektivität meist schon verloren. Beispiele dafür gibt es viele im Mordprozess Böhringer, exemplarisch seien hier zwei herausgegriffen.

Ingrid Holenia, 49, war eine gute Bekannte von Böhringer und ist Geschäftsführerin eines bekannten Münchner Wirtshauses. Sie will erkannt haben, dass der Angeklagte "unverhältnismäßig viel hingenommen" habe von seiner Tante. "Vielleicht war es ihm irgendwann zu viel", gibt sie ungefragt zum Besten. Böhringer habe aus Verärgerung zum Schluss eine Stiftung geplant und gesagt, ihre Neffen "kriegen nichts mehr". Die Richter haken nach: "Die Stiftung war nur eine Denkvariante", ergänzt die Zeugin daraufhin. Und noch später revidiert sie alles Gesagte: "Ich muss ehrlich sagen, ich weiß nicht mehr, ob wir darüber geredet haben." In Momenten wie diesen platzt den Verteidigern der Kragen. "Die ganze Beweisaufnahme erschöpft sich in Vermutungen", schimpft Anwalt Witting ein ums andere Mal.

Gerd Käfer, 74, ist Begründer des gleichnamigen Feinkostimperiums. Käfer scheint seine Rolle als Zeuge zu genießen - zuvor hatte er bereits ein Interview im Fernsehen gegeben. Den Angeklagten bezeichnet er als "Playboy" und "sehr lebenslustig", gesehen hat er ihn aber nur einige wenige Male, immer im Schlepptau von Böhringer.

Zur Sache hat Käfer nicht viel beizutragen, außer einem Detail. Bei einer geselligen Runde im Biergarten habe er einmal eine "heiße Diskussion" zwischen Böhringer und ihrem Neffen miterlebt. Böhringer sei vom Nachbartisch dann an seinen Tisch gekommen und habe wutentbrannt gesagt, "der Benni will immer mehr und mehr. Jetzt ist Schluss."

Bei seiner Vernehmung bei der Polizei hat Käfer von dieser angeblich hitzigen Atmosphäre nichts erwähnt. "Vielleicht hab' ich das vergessen", ringt er um Worte. Verteidiger Witting ist empört - und zeigt Käfer wegen des Verdachts der Falschaussage an.

"Wir haben viel gesprochen nach dem Mord, was war, wer kann das gewesen sein", räumt Ingrid Holenia an anderer Stelle ein. In diesem Satz offenbart sich das ganze Dilemma des Zeugenbeweises. Der Mord war natürlich Tagesgespräch unter Böhringers Bekannten, alles andere wäre lebensfremd. Manche der sogenannten Freunde hatten nichts besseres zu tun, als den Boulevard mit Klatschgeschichten zu versorgen.

Das ging soweit, dass Böhringer Kontakte zum Rotlichtmilieu nachgesagt wurden. Vergil hat die Fama einmal als grausiges Wesen mit zahlreichen unaufhörlich schwatzenden Mäulern und Zungen beschrieben - einige von Böhringers falschen Freunden müssen lange Zungen haben.

Kein Ende absehbar

Der Zeuge, das unbekannte Wesen, tritt im Böhringer-Prozess in vielerlei Gestalt auf. Der eine strotzt vor Eitelkeit und Geschwätzigkeit, der andere glaubt, mit Arroganz das Gericht oder die Öffentlichkeit beeindrucken zu können. Andere wiederum zweifeln, wägen ab und wünschen sich am liebsten weit weg von diesem unbequemen Platz.

Je mehr Aussagen sich ansammeln, desto fragwürdiger wird das Procedere. Den idealen Zeugen gibt es nicht, das wusste der Gesetzgeber schon immer. Das Misstrauen der Juristen spiegelt sich denn auch in der Strafprozessordnung, die dem Zeugen allein 24 Paragraphen widmet. Doch obwohl der Mensch in seiner Wahrnehmung fehlerhaft ist, wird er immer wieder zum wichtigsten Beweismittel gemacht.

Die moderne Kriminaltechnik, vor allem der genetische Fingerabdruck, hat ein wenig Druck von dem Zeugenbeweis genommen - und das ist gut so. Doch hat auch diese schöne neue Welt ihre Schattenseiten. Dass ausgerechnet der Böhringer-Prozess diese zeigt, mutet fast wie ein Witz an. In der Wohnung Böhringers fand sich an einem Glas eine DNS-Spur, die zum allgemeinen Erstaunen identisch ist mit einer Spur aus dem alten Mordfall Ursula Herrmann. Die Schülerin war 1981 entführt und in einer Kiste in einem Wald am Ammersee vergraben worden. Das Kind erstickte qualvoll, der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.

Ob reale Spur oder Laborversehen, seit der Entdeckung der identischen Muster sind der Fall Herrmann und der Mordprozess Böhringer auf unselige Weise miteinander verquickt. Aus diesem Grund ist es bisher fast unmöglich, ein Ende des Verfahrens am Schwurgericht voraussagen zu können.

Intern wird bereits davon gesprochen, dass es in diesem Jahr nicht mehr zu einem Urteil kommen werde. Am kommenden Montag wird das Verfahren nach mehrwöchiger Unterbrechung fortgesetzt. Sechs Zeugen sind vorläufig noch geladen. Benedikt T. wird weiter aufmerksam ihren Aussagen lauschen, sich Notizen machen und sich die langen Haare mit einer unbewussten Geste aus dem Gesicht streichen.

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