Porträt:Der Mensch ist ein Reichtum

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Eine besondere Erscheinung: 1966 kam Anne Ziegler-Weispfennig von Frankfurt nach München. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Schauspielerin Anne Ziegler-Weispfennig prägt die theaterpädagogische Arbeit in München. Sie inszenierte viele Theaterstücke, die das Dasein widerspiegeln. Angefangen hat alles in einem Jugendzentrum im Hasenbergl

Von Charlotte Schulze, Moosach

"Der Mensch ist ein Reichtum". Ein Sprichwort, das in diesen Tagen nicht laut genug in die Welt herausgerufen werden kann. Diese afrikanische Weisheit ist es, die auch die Lebenseinstellung der Schauspielerin und Theaterpädagogin Anne Ziegler-Weispfennig charakterisiert.

Seit 45 Jahren prägt Ziegler-Weispfennig die theaterpädagogische Arbeit in München, die im Buch des Autors Roland Rottenfußer nachzulesen ist, das das afrikanische Sprichwort zum Titel hat. Ziegler-Weispfennig inszenierte zahlreiche Theaterstücke, die, genau wie ihre Schauspieler, die Palette des menschlichen Daseins widerspiegeln. Angefangen hat alles im Jahr 1967 in einem Jugendzentrum des Kreisjugendrings im Hasenbergl, das voll war von jungen Menschen, deren Väter tranken, schlugen oder gar nicht existierten. Gemeinsam mit ihnen brachte Ziegler-Weispfennig Erich Kästners "Pünktchen und Anton" auf die Bühne. So wie die zahlreichen anderen Projekte, die folgten, war die Aufführung ein Erfolg - aus künstlerischer als auch aus pädagogischer Sicht. Anne Ziegler-Weispfennig holte die Jugendlichen, die "Antons" des Hasenbergl, raus aus einem Zuhause, das oft keines war. "Du warst die Alternative zu den Schlägen meiner Eltern", soll Jahre später ein Jugendlicher zu der Theaterpädagogin gesagt haben.

"Schauspielern hat wie jede andere Kunstrichtung immer auch einen therapeutischen Effekt", davon ist Ziegler-Weispfennig überzeugt, die jungen Leute würden durch die Projekte aus der Reserve gelockt und aktiv werden. Das Spielen helfe dabei, das Erlebte zu verarbeiten. Außerdem bekämen sie auf der Bühne die Anerkennung, die im Alltag häufig versagt bleibe. Aus diesem Grund sollten sich nach ihrer Meinung "viel mehr Schauspieler, die in die Jahre kommen, für Theaterpädagogik entscheiden."

Wenn Ziegler-Weispfennig spricht, kann das Gegenüber nicht anders als ihrer feinen Mimik, ihren Bewegungen mit der Hand zu folgen. Das Sofa in ihrem Wohnzimmer, auf dem sie Platz genommen hat, ist ihre Bühne. Ihr Gegenüber das Publikum. Ziegler-Weispfennig ist gelernte Schauspielerin, ausgebildet an der Frankfurter Hochschule für Musik und Schauspiel. Theaterkenner und -kritiker prophezeiten ihr in jungen Jahren eine Karriere auf der Bühne und den Leinwänden. Doch Ziegler-Weispfennig ging andere Wege. 1966 zog es sie von Frankfurt nach München, um dort schließlich im besagten Jugendzentrum mit der theaterpädagogischen Arbeit zu beginnen. Das Schauspielern fehlt ihr nicht: "Zu inszenieren macht mir einfach unglaublich Spaß."

In ihren Stücken lässt Ziegler-Weispfennig einen Autisten den eigenen, bösartigen Vater, Blinde sehend oder korpulente Mädchen Nymphen spielen. Sie schafft mit ihren Inszenierungen eine Welt, in der kein Platz ist für vorgefertigte, gesellschaftliche Muster und damit eine ganz andere ist als die, in die sie hineingeboren wurde: 1938 kam sie in Frankfurt zur Welt und wuchs die ersten sieben Lebensjahre in einem Regime auf, das Menschenhass säte. Es war mitunter wahrscheinlich diese Erfahrung, die dazu beitrug, dass Weispfennigs Arbeit stets auch politisch ist, sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Vorurteile einsetzt. So lässt sich ihre Auffassung davon, was Theater leisten soll, mit den Worten von Berthold Brecht zusammenfassen: "Das moderne Theater muss nicht danach beurteilt werden, wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wieweit es sie verändert."

Die Inszenierungen von Weispfennig haben etwas bewirkt. Das wird durch die Menschen, die von ihr erzählen, durch Preise, die ihre Arbeit auszeichnen, deutlich. Stolz liegt in der Stimme der Hessin, wenn sie von ihren Bekanntschaften und Förderern erzählt. "Immer sich selbst zu loben, ist aber auch nichts", sagt sie.

"Der Mensch ist ein Reichtum" ist ein Sprichwort, das den Menschen Ziegler-Weispfennig fassbar macht. Es ist das Lebensmotto einer Frau, die zu Reichtum kam. Nicht durch eine Karriere als Schauspielerin am Theater oder im Film. Sondern durch ihre Arbeit mit den Jugendlichen, Migranten, Studenten, Autisten. "Das Glücksgefühl zu sehen, wie junge Menschen über sich hinaus wachsen, kann einem keiner nehmen. Das ist so viel mehr wert, als auf der Bühne zu stehen und eine große Rolle zu spielen."

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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