Mitten in München:Morgenstund' hat Blei im Mund

Wer in der S-Bahn an eine redefreudige Amerikanerin gerät, bekommt ihr Leben erzählt und verliert eine halbe Stunde geruhsamen Schlafes

Von Jakob Pontius

Ein klarer Frühlingsmorgen, die warme Sonne blinzelt durch die verschmierten Fenster der S-Bahn. Es herrscht schläfrige Stille, die meisten Fahrgäste sind noch nicht richtig wach, ab und an geht ein Gähnen durch die Reihen. Plötzlich unterbricht reiner US-Ostküsten-Akzent die wohlige Trance: "Please put your backpack right here" - die junge Frau gegenüber deutet auf den freien Sitz neben sich - "the floor is too dirty." Nach der ersten Schrecksekunde wird ihr Angebot abgelehnt. Damit wäre das Gespräch normalerweise beendet, schließlich verbietet der tägliche Morgentrott jede Ablenkung. Stattdessen: "Hey, I'm Hanna from New York" - die Erwähnung dieser Metropole lässt die Empfindlichkeit bezüglich schmutziger S-Bahn-Böden endgültig zu einem Rätsel werden. Und natürlich folgt ein "Nice to meet you". Okay, dann also Smalltalk.

Obwohl die gute Hanna offenbar schon länger an der Isar weilt, wie sie ihren Mitfahrern freudig mitteilt, scheint sie die deutschen Hemmungen beim kurzen Gespräch unter Unbekannten noch nicht verinnerlicht zu haben. Oder aber sie nimmt die zur Morgenstund besonders stark ausgeprägte Mundfaulheit schlicht nicht hin und redet wider besseres Wissen munter drauf los. Lässt man sich dann auf das beinahe rituelle und unverbindliche Geplauder ein, erzählen Amerikaner in fünf Minuten so viel von sich, wie es die eigenen Landsleute in fünf Wochen nicht tun. Man kann sich von solch spontaner Offenheit sicherlich einiges abschauen, aber doch bitte nicht so früh am Morgen.

Ehe aber die Gefahr besteht, sich allzu genau kennenzulernen, springt Hanna mit einem glockenhellen Lachen auf. Bevor sie in den sonnigen Morgen entschwindet, hat sie gerade noch Zeit zu erwähnen, dass sie auch ein paar Jahre in Paris gelebt hat. Da fühlen sich die inzwischen erwachten Münchner ringsherum natürlich gebauchpinselt - München in einer Reihe mit New York und Paris. Als Weltstädter kann man sich zwar auch allein ganz gut sehen, aber wenn Auswärtige das sagen, dann fühlt es sich gleich noch erhebender an. Da hat sich der Small Talk also doch gelohnt - trotz der frühen Stunde.

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