Mitten in Thalkirchen:Gedanken zum Gipfelsturm

Wer nichtsahnend im Cafe des Kletter- und Boulderzentrums sitzt und etwas Bauch vor sich her trägt, läuft Gefahr, zur Ertüchtigung in die Wand geschickt zu werden

Von Jürgen Wolfram

Die Gedanken sind frei. Dumm nur, dass sie sich so schwer disziplinieren lassen. Wie sonst könnten einem hier luftgetrocknete Witze über die Schwerkraft einfallen wie der vom Fassadenkletterer, der auf Höhe des 17. Stockwerks abstürzt. Und was er denkt, wenn er an der dritten Etage vorbeifliegt: Ach, bei Müllers brennt schon Licht . . . Oder der Bergfexen-Schmarren mit der Kampenwand-Wampe.

Offenkundig stimuliert es den Geist, im Café "Bella Vista" des Kletter- und Boulderzentrums in Thalkirchen zu sitzen und aus spitzem Winkel zu beobachten, wie ambitionierte Aufsteiger zum Gipfelsturm ansetzen. Sich vortasten an der Betonsteilwand mit ihren Tretpunkten, die anmuten wie bunte Smarties. Man könnte selbst die Wände hochgehen: Bei Kaffee und Kuchen begibt sich die Fantasie ungefragt auf Höhenflug. Heutzutage hängt das Schicksal an elastischen Seilen, nicht am seidenen Faden.

Geradezu laienhaft wäre es, vor der Thalkirchner Kletterkulisse vom Kraxeln zu sprechen, wo doch ein post-alpinistischer Move im Gange ist. Jetzt bloß nicht "Berg heil" rufen! Das wäre ungefähr so passend, wie sich in Bundhosen bei einer der hippen Seilschaften einzureihen. Auf den boulderfernen Zuschauer, der höchstens mal das Brauneck erwandert hat, wirkt das Kletterzentrum so unterhaltsam wie verwirrend. Im Foyer preist ein Plakat die Aktion "Boulder, Beats und Burger" an. Muss man sich das vorstellen, wie eine mit Hardrock untermalte Hangelei nach einem Fastfood-Gelage? Trügt womöglich die Annahme, dass ein voller Magen und im Takt zuckende Beine hier hinderlich sind?

Doch kaum will sich besorgte Nachdenklichkeit einhaken, beweist die Begleitung im "Bella Vista", dass sie noch nicht soweit ist, die schöne Aussicht griffsicher zu interpretieren. Wieso der Mann mit dem im Bauchbereich gewölbten Trikot, der unentschlossen am Fuß der künstlichen Berge verharrt, nicht kurzerhand rückwärts los steigt, will sie wissen. Um gewisse Sportarten mental zu durchdringen, braucht es anscheinend mehr Zeit. Und stringentere, nüchterne Gedanken.

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