Mitten in Pasing:Tai Chi am Bahnsteig

Für Wiesn-Muffel beginnen am Samstag schwere Wochen. Höchste Zeit also, sich mit Gleichmut zu wappnen - zum Beispiel mit einer kostenlosen Einführung in die chinesische Kunst der Köperbeherrschung im Pasinger Bahnhof

Von Jutta Czeguhn

Kaum etwas zehrt mehr an der Lebensenergie, als sich morgens zur S-Bahn zu schleppen. Schon auf dem Weg dorthin beschwert die Vorstellung jeden Schritt, dass man nun gleich wieder neben Leuten kauern und atmen muss, deren Gegenwart und Ausdünstungen einem der Zufall und die Deutsche Bahn AG zugespielt hat. Kurz, all die Menschen, denen es genauso geht wie einem selbst.

Noch trüber wird die Stimmung bei dem Gedanken an jene Zeitgenossen, die das Oktoberfest in die Stadt spült - und die in den kommen Tagen dann leider auch in die S-Bahn hineinbrechen, was sehr wörtlich zu verstehen ist. Bei der Einfahrt in die Stationen Hackerbrücke und Hauptbahnhof wird man wieder bange, angeekelte Blicke durchs Fenster auf die Meute werfen, die dort am Bahnsteig grölend wartet - vor allem, wenn der Platz neben einem noch frei ist.

Wie gerne wäre man in diesen Wiesn-Wochen ein Wesen von unerschütterlicher Gelassenheit, jemand, der dem Getümmel weltlichen Kommens und Gehens, in diesem Fall Speiens und Lallens unvoreingenommen und zugewandt begegnet. Noch sind es einige Tage hin, um an sich zu arbeiten und von anderen zu lernen, die ihr Yin und Yang schon schön in Gleichklang gebracht haben.

Weit fortgeschritten auf diesem Bewusstseinspfad der Selbstkultivierung erscheinen einem zum Beispiel die Mitglieder einer chinesischen Reisegruppe, die am Bahnhof Pasing auf Gleis 4 auf ihren Regionalzug nach Mittenwald warten. Ihre Reiseführerin, eine ebenfalls chinesische Dame mit praktischer Kurzhaarfrisur, schildert den Touristen aus Fernost vermutlich gerade wortreich, welch Schönheit sie im Gebirgs-und Geigenbauerort erwarten dürfen. Dabei vollführt sie in schönster Harmonie allerhand Bewegungen, die nicht anders zu deuten sind als Tai-Chi-Formen: Kopf-, Bein- und Armspiralen sind dabei und auch die Figur "Der Kranich breitet seine Flügel". Fasziniert verfolgt man das alles von Gleis 5 und spürt schon "innere" Prozesse wirken. Dann fährt der Regio-Zug ein. Als er weg ist, sind auch die Chinesen verschwunden. Mit gestärktem Chi steigt man nun in die S-Bahn.

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