Mitten in München:Sitzplätze sind der neue Luxus

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Was einst pfiffige Konzertveranstalter vorgemacht haben, dient nun auch der Bahn als Idealbild: Wenn es eng wird in den Zügen, kann man ja mehr Stehplätze schaffen

Kolumne von Jürgen Wolfram

Wenn die stade Zeit vorüber ist, dann wird es bald auch wieder ruhiger. Dieser luzide Gedanke Karl Valentins passte gut in die Zeit, in seine Zeit vor allem. Heutzutage wirkt er eher wie ein frommer Wunsch. Denn auch zwischen den Jahren gerät man gegenwärtig leicht zwischen die Fronten sich drängender Menschen, zum Beispiel beim verzweifelten Versuch, im Kaufhaus unpassende Geschenke umzutauschen, oder aber in der U-Bahn, die den Kunden direkt zu diesem nervenaufreibenden Ritual befördert.

Doch die S-Bahn fällt, wie Münchnerinnen und Münchner aus leidvoller Erfahrung wissen, als alternatives Geschenk des Himmels praktisch immer aus. In Zukunft müssen sich deren Passagiere erst recht warm anziehen, bevor sie einsteigen. Denn die zweite Stammstrecke kommt noch lange nicht, der prognostizierte Bevölkerungszuwachs aber schon sehr bald. Bei einer Infoveranstaltung hat ein Projektleiter der Bahn kürzlich eingeräumt, dass diese Aussichten das Unternehmen mächtig umtreiben. DB-Konstrukteure seien bereits damit beschäftigt, mehr Platz in den Waggons zu schaffen, eine ganz neue Generation von Abteilen zu kreieren, die dem Ansturm gewachsen sind.

Da auch versierte Logistiker nicht zaubern können, steht ihnen zur Lösung der kniffligen Aufgabe genau eine Formel zur Verfügung: Um das Platzangebot in der Münchner S-Bahn auszuweiten, ohne die gesamte Zuggarnitur aufzublasen und womöglich noch die Spurbreite zu vergrößern, müssen sie die Zahl der Sitzplätze minimieren und den Raum für stehende Fahrgäste maximieren. Und das Ganze natürlich geschickt kaschieren, zuzüglich gewisser Garantien für Gebrechliche. Man ahnt, was da auf München zurollt, welches viel beschworene Bild bald schärfere Konturen annimmt: das der Sardinendose, die auf Rädern über Gleisanlagen schaukelt und an jeder Haltestelle jene Menschen freigibt, die den Ausgang aus dem Gewühl gefunden haben.

Was sich im Transportwesen abzeichnet, hat in der Musikbranche so ähnlich schon mal funktioniert. Als Popkonzerte Mode wurden, fanden die zunächst fast ausschließlich im Circus-Krone-Bau oder im Kongresssaal des Deutschen Museums statt. Umlaufende Bänke hier, dichte Bestuhlung dort. Tickets in den Veranstaltungshallen der nachfolgenden Generation waren dann meistens nur noch Stehplatzkarten, die Zahl der Nachbarn erhöhte sich schlagartig. Schlitzohrige Impresarios begründeten die Entstuhlung gern mit dem Hinweis, bei dieser Art Musik halte es ohnehin niemanden auf den Sitzen.

So einfach wird es sich die Bahn nicht machen können. Denn das Geratter von Zügen ist nicht unbedingt der Rhythmus, wo man mitmuss, wo es einen von den Sitzen reißt. Glücklich ist bei diesen Aussichten nur, wer nicht unbedingt mitmuss.

© SZ vom 28.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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