Mitten in München:Die Kunst des Wartens

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Gelebter Wahnsinn wie im Wiesnhit-Klassiker von Wolfgang Petry: Frühmorgens in der Warteschlange vor dem Schützenfestzelt

Von Hannah Knuth

"Das ist Wahnsinn", heißt es in einem Wiesn-Klassiker von Wolfgang Petry, "warum schickst du mich in die Hölle?" Dann ruft ein Chor viermal lautstark das Wort "Hölle", bevor es weiter heißt: "Eiskalt lässt du meine Seele erfrieren."

Es gibt diese Momente, in denen man sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wiederfindet, an dem man sich in seinem Leben nie gesehen hat, und sich folglich fragen muss, was zur Hölle, ja zur Hölle, Hölle, Hölle, Hölle eigentlich falsch gelaufen ist: Es ist Samstag, sechs Uhr morgens, und der Wind bläst, die Augen halten sich mit Kraft auf Halbmast. Irgendwie hat man es geschafft, inmitten einer Menschenschlange zu stehen, und irgendwie steht die auch noch auf der Wiesn. Zugegeben, man hat einen Haufen Freunde mit erstaunlicher Überzeugungskraft zu Besuch, und so startet der Tag eben schnell mal in einer Warteschlange zum Schützenfestzelt, vor einem schon Dutzende Feierlustige, hinter einem immer mehr Wiesn-Verrückte.

Wer im Zelt in einer größeren Gruppe Spaß haben will, braucht einen Tisch. Und den kriegen nur diejenigen, die Ausdauer und Kondition im Schlange stehen beweisen. Es sind noch drei Stunden, bis die Türen öffnen, drei Stunden bis man sich - halb erfroren und aus Freude über die abgestandene Zeit - für 10,40 Euro die erste Mass gönnen kann.

Natürlich sind unter den Wartenden auch einige routinierte Zeltgänger, die genau wissen, wie man sich warm hält: Kleine Schnapsflaschen werden durchgereicht, Butterbrote ausgepackt, und während am Himmel die Sonne aufgeht, wird das erste Lied angestimmt. Von vorne reicht irgendjemand einen Kleinen Feigling durch. Das ist "Waaahnsinn", denkt man sich, es ist viel zu früh zum Schnapstrinken, aber es bieten sich just auch keine anderweitigen Aktivitäten an. Man nimmt also dankend an und fühlt sich schnell erwärmt.

Eine gefühlte Ewigkeit später schleichen sich drei Madln heran. Sie haben eine Gruppe Australier im Visier, die weiter vorne in der Schlange warten. Es ist verboten, sich kurz vor Einlass zu Wartenden zu stellen, erzählen zwei Peruaner, die das Geschehen mit Faszination verfolgen und offensichtlich nicht zum ersten Mal da sind. Viele Zeltordner positionieren sich deshalb während der Wartezeit entlang der Schlange - für die rührigen Madln kein Problem: Gekonnt warten sie den Moment ab, in dem zwei Morgenmuffel aus der vierten Reihe die Aufmerksamkeit der Ordner erregen, dann geht es schnell: "Entschuldige, würde es dir etwas ausmachen?", so die beherzte Frage. "Natürlich nicht", lautet die Antwort. Schon sind sie in die Schlange eingetaucht. Passend stimmt jemand "das ist Wahnsinn" an, während man sich selbst nach zweieinhalb kalten Stunden Wartezeit eingestehen muss: Das ist kein Wahnsinn, das ist große Kunst.

© SZ vom 29.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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