Mitten in München:Der Hunger des Bücherwurms

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Angesichts der Schlanken und Fitten, die jetzt wieder ins Freie drängen, drückt jede überflüssige Kalorie doppelt schwer auf Waage und Gewissen

Von Sarah Obertreis

Der kalte, nasse Winter hatte auch etwas Gutes. Mit einem Buch auf dem Sofa liegend konnte man sich ganz wunderbar vor dem Joggen drücken. Außerdem entging man auf diese elegante Weise körperlicher Unbill. Zu groß war die Gefahr, auf den vereisten Straßen auszurutschen und sich eine Verletzung zuzuziehen. Die von der fehlenden sportlichen Betätigung kontinuierlich wachsenden Fettpolster konnte man elegant unter weiten Pullovern verstecken. Doch mit den ersten warmen Sonnenstrahlen kommen die Probleme wieder zum Vorschein - und mit ihnen geht die Reue einher, dass man in der Fastenzeit weder auf Süßigkeiten noch auf die obligate Pizza und das tägliche Nutella-Brot verzichtet hat.

In der Sportstadt München lastet das Erbe einer solch hemmungslosen, Rundungen produzierenden Völlerei natürlich besonders schwer. Rund 75 Prozent der Münchner treiben regelmäßig Sport. Trainierte Jungspunde präsentieren sich schon bei 15 Grad Celsius kurzärmlig und in Shorts auf dem Marienplatz. Im Englischen Garten aalen sich Bikini- und Badehosenträger in der eigentlich noch viel zu schwachen Sonne und lassen in einem die Angst aufsteigen, zu lange mit dem dringend nötigen Fettpolster-Abbau gewartet zu haben.

Zum Glück verspricht ein Café in der Nähe Rettung. Der Inhaber ist ein Anbieter von Diätprodukten und serviert Säfte und vegane Suppen. Zunächst ist man angetan von dieser scheinbar so einfachen Möglichkeit, grundlegend abzunehmen. Also setzt man sich an einen freien Tisch, liebäugelt mit einer Nussmilch, als einem während des Wartens auf die Kellnerin ein kleiner quadratischer Zettel in die Hand fällt. "Snack-Tipps" lautet der Titel.

Entzückt davon, dass man bei dieser Diät sogar Zwischen-Mahlzeiten zu sich nehmen darf, sieht man sich schon im Bikini im Englischen Garten liegen. Doch der Traum zerplatzt sofort wieder. Dort steht, man solle nur snacken, falls man dem Drang zum Kauen nicht widerstehen könne oder das Hungergefühl zu groß sei. Auf der Rückseite finden sich Vorschläge für den Notfall: ein Apfel oder eine Tasse Gemüsebrühe. Inzwischen ist man aufgestanden, noch bevor die Kellnerin erschien, und läuft vor Panik ziellos durch die Maxvorstadt.

Aber die Rettung naht, wo niemand mit ihr gerechnet hätte. Die bis zur Decke wild aufeinander gestapelten Bücher des "Antiquariats an der Uni München" ziehen einen in den Bann. Und was findet man nach kurzem Stöbern in den verlockenden Seitenbergen? Eine fein säuberlich leergegessene Kekspackung. Und da ist es wieder, dieses gute Gefühl, dass es total in Ordnung ist, ein auf Süßigkeiten versessener Bücherwurm zu sein. Was soll's, dass sich draußen so viele schlanke Münchner herumtreiben. Sehen doch alle ziemlich verschwitzt aus.

© SZ vom 15.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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