Mitten in Berg am Laim:Von Chinesen lernen

Achtlos geht man an den Schönheiten in der eigenen Stadt vorüber. Zumindest einmal im Jahr sollte man aber Tourist spielen, das macht Spaß und weitet die Perspektiven

Von Jutta Czeguhn

Die echten Pariser, davon ist auszugehen, verschwenden keinen Blick auf den Eiffelturm, es sei denn, er gerät ihnen mal zufällig ins Gesichtsfeld. Für die Londoner sind die schwarzen Taxen daily business, vermutlich sogar bloody Ärgernis. Die Römer hätten viel zu tun, immer dann in Ehrfurcht zu erstarren, wenn sie am Colosseum oder anderen antiken Steinen vorbeikommen. Und die Münchner, so sie nicht als Taschendiebe ihr Geld verdienen, meiden den Marienplatz nicht nur zu den Glockenspielzeiten.

Achtlos geht man also an den Schönheiten in der eigenen Stadt vorüber, die zu sehen andere weite Wege in Kauf nehmen. Zumindest einmal im Jahr sollte man deshalb Tourist spielen, das macht Spaß und weitet die Perspektive. Man muss sich dazu nicht auf den Marienplatz oder vors Hofbräuhaus stellen, auch nicht den Olympiaturm erklimmen. Die Übung der Achtsamkeit lässt sich ganz prima auch in den Weg zur Arbeit integrieren. Ein Beispiel: die S-Bahn-Unterführung in Berg am Laim. Wer öffentlich unterwegs ist und zum SZ-Verlagsgebäude will, muss da hindurch. Der Tunnel ist bandwurmlang, von sumpfiger Moderluft durchzogen, zum Spucken hässlich und nachts zum Fürchten einsam. Menschen, eben noch als aufrechte Lebewesen in bester Laune in den Tag gestartet, ändern an diesem schauerlichen Ort ihren Gang, werden zu Niedergedrückten, die Unterführung überführt sie in den Gemütszustand von depressiven Pessimisten.

Da hilft es nur, möglichst schnell dort durchzutauchen. Oder aber die Schönheit hinter dem Hässlichen zu entdecken. Wie jene Gruppe chinesischer Touristen, die eines Morgens mitten im Tunnel stand und - als hätten sie die Mona Lisa vor der Nase - euphorisiert die Graffiti-beschmierten Sichtbeton-Wände bestaunte. Hatte ihnen ein kantonesischer Kulturreiseführer den Tunnel als Geheimtipp an Herz gelegt, den sie nun wie im Rausch abfotografierten? Man musste einfach bei den Chinesen stehen bleiben, wollte man dem Faszinosum auf die Schliche kommen. Und wirklich, unglaublich . . . Seither ist die Welt da unten viel freundlicher.

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