Mitten in Berg am Laim:Speeddating im Stau

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Wenn lange Blechlawinen in Zeitlupe am eigenen Auto vorbeirollen, bleibt Zeit genug, die Insassen zu taxieren - vermutlich machen die genau das Gleiche

Von Renate Winkler-Schlang

Kürzlich abends in Berg am Laim: Lag es an der Trambahnbaustelle oder war es einfach der ganz normale München-Wahnsinn? Die Baumkirchner Straße voll, in beiden Richtungen. Nun ist die Baumkirchner keine breite Straße, seit sie rechts und links Platz für die Radler abgezwackt haben. Die beiden Staus waren also so nah beieinander, dass man denen, die auf der anderen Spur im Schneckentempo vorbeirollten, direkt ins Auto schauen konnte. Ein steter Zug von müden Menschen.

Das kennt man ja von den langen Rolltreppen der U-Bahnhöfe, da kann man so schön schauen, wer was wie trägt, ob jemand dynamisch wirkt oder lasch. Mit den Autofahrern ist das aber noch mal eine andere Sache. Sie sitzen in ihrem eigenen Käfig, fühlen sich wie daheim, ganz zwanglos. Nicht gerade, dass jemand in der Nase gebohrt hätte, das nicht. Aber es hatte schon beinahe etwas Voyeuristisches, da hinüberzublicken. Etwa so, wie wenn man abends spazieren geht und den Menschen in den hell erleuchteten Zimmern beim Wohnen zuschaut.

Die junge Frau im blauen Panda beißt in eine Breze, der nächste spricht in sein Handy. Dann kommt einer dieser Technofans, deren Schall alles vibrieren lässt. Mancher lächelt komplizenhaft rüber, er weiß, dass auch alle anderen nur weiter wollen. Andere lehnen am offenen Fenster, stützen den Kopf mit der Hand. Eine Art langsames Speeddating ist dieser Stau. Man merkt doch sehr schnell, wer sympathisch aussieht da drüben. Findige junge Start-ups könnten da doch mal was entwickeln: Handynummernschleudern, Schampustabletts am Mittelstreifen. Quatsch - was einem für seltsame Gedanken kommen in so einem Stau.

Und noch ein Blitz im ausgedörrten Hirnkastl: O je, die da drüben, die schauen ja auch. Machen sich vielleicht ähnliche Gedanken wie man selbst. Nein - möchte man ihnen zurufen - die seltsam-golden-metallische Lackierung unserer Mittelklasse-Familienkutsche, die haben wir uns nicht ausgesucht. Wir finden sie sogar hässlich. Es ist ein Gebrauchtwagen, den gab's nicht anders. Wirklich. Schaut lieber hinten auf den Aufkleber. Gelbe Sonne mit rotem Gesicht und Nein-danke-Botschaft. Wir meinen das ernst. Aber schon sind sie vorbeigerollt. Und keiner schaut sich um. Auch egal.

© SZ vom 27.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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