Mitten im  Hauptbahnof:Granteln am falschen Ort

Wer über andere schimpfen will, sollte dafür die passende Gelegenheit finden, denn anderenfalls wird man selbst zum Objekt des Unmuts

Eine Kolumne von Johannes Korsche

Wenn Profis fehlen, versuchen sich eben Amateure auf dem jeweiligen Gebiet. Auch beim Granteln, diesem angeblich für München so typischen Lebensgefühl, das sich vor allem durchs Schimpfen auf alles und jeden auslebt. Leider trifft man immer weniger Profi-Grantler, was den Weg frei macht für blutige Amateure. Leider.

Da ist zum Beispiel die Mittfünfzigerin an einem Kiosk im Hauptbahnhof, die morgens beim Umsteigen von der U- in die S-Bahn das Nötigste kauft. Zigaretten. Offenkundig, so viel wird beim Lauschen klar, hat sie in den vergangenen Monaten eine Abneigung entwickelt, die man ohne Einschränkung teilen kann: Supermarkt-Kunden, um ein Klischee zu bemühen, vornehmlich ältere Damen, die an der Kasse nur allzu passend zahlen möchten. Zu allem Überfluss erzählten diese Damen auch noch von Gott und der Welt, hat sie beobachtet. All das, während sie im Portemonnaie - bezeichnenderweise haben ältere Damen immer ein Portemonnaie, keinen einfachen Geldbeutel - nach Münzen fischen. Was für ein wundervolles Thema zum Granteln.

Nur leider ist sie eben kein Profi. Der Profi-Grantler weiß, dass es zum Granteln den richtigen Ort und die richtige Zeit braucht. Deswegen sitzt er ja im Biergarten oder der Eckkneipe, die dafür wie geschaffen scheinen. Bahnhofskioske dagegen eher nicht. Denn während sich die Amateurin in Rage redet und sich darüber beschwert, dass "denen auch egal ist, wen und wie lange sie damit aufhalten", wird hinter ihr die Schlange immer länger. Nach einer gefühlten Ewigkeit blickt sie hinter sich, sieht in gestresste Gesichter, die zum Warten verdammt sind. Pendler, die gerade eine S-Bahn verpassen. Kaffeesüchtige, die sich vor ihrer ersten Tagesdosis noch schlecht gelaunt durch München schleppen.

Nach dem ersten Kaffee werden die sich wiederum in der Arbeit über arg mitteilungsbedürftige Mittfünfzigerinnen beschweren, wegen denen sie am Kiosk sinnlos warten mussten. "Wirklich unmöglich, solche Leute", sagt die Amateurin noch, bevor sie endlich ihr Portemonnaie - ja, auch sie hat keinen einfachen Geldbeutel - neben den Zigaretten in ihrer Tasche verstaut. Wirklich unmöglich, da möchte man ihr recht geben.

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