Mitesszentrale:Die Fremden in meiner Küche

Auf dem Online-Portal Mitesszentrale.de verabreden sich immer mehr Münchner zum gemeinsamen Dinner - oft mit erstaunlichen Ergebnissen

Sonja Peteranderl

Jedes Abendessen birgt ein gewisses Risiko, die Möglichkeit des Scheiterns, aber für diese Einladung gilt das ganz besonders. Marie hat am Abend zuvor zwei Stunden lang eine Mango-Creme-Brûlée angerührt, auf ihrem Weg von der Arbeit nach Hause schnell noch Zitronengras, Gargant und Limettenblätter für eine thailändische Tom-Kha-Gai-Suppe eingekauft, der Tisch in ihrer Wohnung ist festlich gedeckt - für Gäste, die sie noch nie gesehen hat. Mit einer Freundin und zwei Fremden stößt Marie nun mit einem Litschi-Grenadine-Sekt-Limetten-Cocktail an, der Abend kann heiter werden oder eine Katastrophe, alles ist möglich.

Mitesszentrale: Essen verbindet: Beim Mitess-Abend lernen ambitionierte Amateur-Köche neue Leute kennen.

Essen verbindet: Beim Mitess-Abend lernen ambitionierte Amateur-Köche neue Leute kennen.

(Foto: privat)

Die französische Tiermedizinstudentin hat ihre Mitesser auf einem Online-Portal ausgewählt. Menschen, die gerne kochen und gerne essen, finden auf der Plattform Mitesszentrale.de zusammen. Jörg Zimmermann, 38, und Markus Henssler, 39, die beide in der Filmbranche arbeiten, haben sie im April 2010 gegründet. Henssler will Menschen zusammenbringen: "Man kann nachsehen, ob jemand aus der eigenen Stadt in den nächsten Tagen kocht, kann sich dazusetzen, mitessen, sich ungezwungen unterhalten." Er finde es erschreckend, dass Menschen nur noch über Facebook kommunizieren - ein gemeinsames Essen sei doch viel kommunikativer. "Wir sind zwar keine Singlebörse, aber es gibt viele Menschen, die alleine sind und dann durch die Mitesszentrale in nette Gesellschaft kommen", sagt Henssler.

Einsamkeit war nicht Maries Motiv - die 27-Jährige hatte durch eine Freundin von der Mitesszentrale erfahren und fand es spannend, ins Leben von ganz verschiedenen Menschen hineinzuschnuppern. "Es geht mir mehr darum, aus dem Alltag auszubrechen", sagt Marie. "Ich will mir keinen neuen Freundeskreis aufbauen." Ihr Studium der Tiermedizin sei anspruchsvoll, viele ihrer Kommilitonen hätten kaum noch Zeit für anderes.

Die Mitglieder der Mitesszentrale sind bunt gemischt: Es sind Studenten, aber auch Berufstätige, "die Jüngste ist 17, die Älteste ist über 70 Jahre alt", sagt Henssler. In München sei die Auswahl am größten, ein Drittel der 5500 Mitglieder lebt hier. Manchmal bewerben sich laut Henssler 30 bis 40 Interessenten auf ein Essensangebot in München. Marie will von ihren Gästen vorher gar nicht zu viel wissen - sie sagt den Schnellsten zu und lässt sich dann überraschen.

Heute sitzen Michel, Ende 40, und Katharina, Ende 20, in Maries Wohnzimmer. Sie arbeitet als Assistentin der Geschäftsführung einer Getränkefirma, zufällig wohnt sie nur ein paar Häuser weiter wie Marie - die beiden tauschen sich gleich über ihr Viertel und die besten Eisdielen aus. Katharina probiert das Mitessen zum ersten Mal - selbst würde sie niemand in ihre Wohnung einladen, das fände sie unangenehm.

Michel hat bereits gute Erfahrungen mit der Mitesszentrale gemacht. Er ist in der Energiebranche tätig, rüstet Gebäude energieeffizient auf, hat aber früher mal ein Aussteigerleben geführt: Lange reiste der begeisterte Surfer durch die USA und Mexiko, deshalb hat er am Tisch einiges zu erzählen: Wie er und seine Freunde etwa stundenlang am Flughafen gefilzt wurden, weil die Beamten dachten, sie würden Drogen in den Surfbrettern schmuggeln.

Schlangen und Kürbiserdbeerschaum

Auch eine Mitstudentin, Ariane, hat Marie eingeladen. Beide sind in den letzten Zügen ihres Studiums der Tiermedizin. Marie hat sich auf exotische Tiere wie Papageien oder Schlangen spezialisiert, Ariane fängt bald mit einem Praktikum im Nahen Osten an, wo sie verwahrloste Kleintiere untersuchen wird, gerade sammeln beide in einer Rinderklinik Praxiserfahrung. Die Gäste erfahren noch vor dem ersten Gang, wie man den verknoteten Magen einer Kuh entwirrt. Die Gespräche, die neuen Bekanntschaften, ein bisschen Abenteuer durch Einblicke in fremde Wohnzimmer, das sind wohl die wichtigsten Dinge an so einem Mitess-Abend - doch ganz unwichtig ist das Essen selbst natürlich auch nicht.

Kürbiserdbeerschaumsuppe, Bandnudeln mit Paprikaschaum und Garnelen oder Glasnudelsalat mit Mango und Shrimps: Die Angebote auf Mitesszentrale.de lesen sich oft wie die Karte eines Spitzenrestaurants, unter den Hobbyköchen sind kreative Gourmets. Für durchschnittlich acht bis zehn Euro erhält der Gast im fremden Wohnzimmer ein Menü mit meist zwei bis drei Gängen und Getränken. Der Koch bestimmt den Preis, verdient aber kaum daran. Einige, sagt Henssler, würden das Essen sogar weit unter dem Selbstkostenpreis anbieten.

Wie Marie haben viele Gastgeber einfach Spaß daran, einmal für eine größere Runde zu kochen und dabei auch Ausgefallenes zu servieren. "Ich probiere immer etwas aus, was ich noch nie gekocht habe", sagt Marie. Perfekt darf das Ergebnis, muss es aber nicht sein: "Es gibt ja zum Glück keine Bewertungen wie beim ,Perfekten Dinner' im Fernsehen." Sekt mit Holunderblütensirup zu Bruschetta, Lammrücken mit Orangen-Thymian-Linsen und Kartoffeln, als Nachspeise Tiramisu - das hat sie bei ihrem ersten Mitess-Erlebnis zusammen mit einer Freundin gekocht.

Vor allem die experimentelle Orangen-Thymian-Linsen-Kombination sorgte erst für Skepsis, dann für Begeisterung: "Dass der Topf leer wurde, obwohl ich vier Portionen zu viel gekocht habe, hat mich zufrieden gemacht", sagt Marie. "Und nach dem Essen musste ich allen das Linsenrezept zumailen." Die Vorbereitungen für die sechs Gäste dauerten damals einen ganzen Tag, zwei Tage nach dem Essen hätten sie noch gespült, bis das letzte Geschirr wieder sauber war, erzählt Marie.

Auf so viel Aufwand hat Marie heute verzichtet, sie wollte lieber entspannt mit ihren Gästen am Tisch sitzen. Die thailändische Tom-Kha-Gai-Suppe mit Jasminreis ist trotzdem vorzüglich, und etwas Neues hat Marie auch wieder ausprobiert: die Mango-Creme-Brûlée mit Sesamkrokantkeksen. Dass sie während des Essens immer mal wieder in die Küche läuft, um sich zu versichern, dass die Creme in der Mikrowelle eine perfekte gold-gelbe Kruste bekommt, fällt kaum auf - denn Küchenbereich und Wohnzimmer gehen ineinander über.

Auch dieser Abend dauert wieder länger, als Marie eigentlich auf Mitesszentrale.de angegeben hatte. Erst um Mitternacht verabschieden sich die Gäste, nachdem Marie noch Wein ausgeschenkt und Espresso serviert hat. Alle tauschen Mail-adressen aus, beinahe vergessen sie, die zehn Euro Kostenbeteiligung zu zahlen. Ob sie sich wiedersehen? Mit einem, den Marie bei einem früheren Essen kennengelernt hat, trifft sie sich regelmäßig. Auf jeden Fall fand sie den Abend "wahnsinnig interessant". Bei ihrer Reise nach Florida im Sommer wird Marie bald auch Couchsurfing ausprobieren und auf einer fremden Couch übernachten - denn davon hatte Michel viel Positives erzählt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: