Mitbestimmung der Bürger:Wo Handzeichen mehr als Smartphones zählen

Die einen melden Schlaglöcher online oder diskutieren in Piraten-Mailinglisten. Die anderen gehen noch zur Bürgerversammlung. Internet oder Veranstaltungssaal - ideal ist die Demokratie noch nirgends, ruppig geht es immer zu.

Lisa Sonnabend

Die Frau mit der Brille hat Angst um ihren Hund. Und zwar so große, dass sie ihren Text rasend schnell herunterrattert. Fünf Minuten Zeit hat sie am Mikrophon für ihr Anliegen. Fünf Minuten, um die Straße zu beschreiben und diese Kurve, in der ihr Hund beim Gassigehen in Gefahr gerät. Sie holt kaum Luft. Breiter müsse die Straße an dieser Stelle sein, viel breiter. Fertig. Tief einatmen. Ob sie überzeugend war? Einige der Menschen im Publikum nicken mit dem Kopf.

Bürgerversammlung Unterföhring

Abstimmung per Handzeichen: eine Bürgerversammlung in Unterföhring.

(Foto: Florian Peljak)

Ein Dienstagabend im Juli in Freimann, ein Stadtteil im Münchner Norden. Bürgerversammlung. Wie jedes Jahr einmal hat der Oberbürgermeister eingeladen, um über aktuelle Themen im Stadtbezirk zu diskutieren und abzustimmen. Wie jedes Jahr ist er nicht selbst anwesend, die zweite Bürgermeisterin Christine Strobl (SPD) leitet die Veranstaltung.

Eine Bürgerversammlung. Ein sperriger Begriff. Und eine Veranstaltung, die noch zeitgemäß ist? Schließlich hat eine Phase begonnen, in der nicht mehr nur die Mitglieder der Piratenpartei für mehr Mitbestimmung im Internet plädieren. Auch die etablierten Parteien haben mittlerweile erkannt, dass sie die Wähler direkter ansprechen müssen, damit sie nicht davonlaufen.

Sogar Horst Seehofer veranstaltet mittlerweile Facebook-Partys. Und immer mehr Städte mit Online-Projekten versuchen, ihre Bürger zu mehr Beteiligung anzuregen. In Erlangen kann man mit einer App Straßenschäden melden, damit die Verwaltung sie rascher beseitigt. Und in Passau werden Stadtratssitzung live per Internet übertragen.

Die Stadt München hat vor kurzem das Projekt München Mitdenken durchgeführt, bei dem Bürger online Ideen für die Zukunftsgestaltung Münchens einreichen durften. 450 Vorschläge sind eingegangen, 200.000 Mal ist die Seite aufgerufen worden. Die Stadt war zufrieden mit der Resonanz. Den Münchnern liegt demnach besonders am Herzen, wie auch in anderen Städten Stolpersteine auf den Gehwegen zu verlegen, um den Opfern des nationalsozialistischen Terrors zu gedenken.

Es überrascht deswegen auch nicht, dass bei der Jahrestagung des Bayerischen Städtetags in Schweinfurt an diesem Donnerstag das Thema lautet: "Bürgerbeteiligung zwischen Marktplatz und Internet". Ulrich Sarcinelli, Professor für Politik an der Universität Koblenz-Landau, hat auf der Tagung des Städtetags einen Vortrag gehalten. Er findet: "Das Internet ist ein Hoffnungsmedium." Doch ist das Netz wirklich das Allheilmittel, um die Demokratie zu retten? Und hat die Bürgerversammlung womöglich bald ausgedient?

Sarcinelli sagt: "Es ist nicht wünschenswert, dass die Bürgerversammlung ersetzt wird." Und das könne das Internet auch gar nicht. Denn: "Interaktion in einem sozialen Kontext hat eine andere Bedeutung als ein isoliertes Weitergeben von Interessen wie im Internet."

Bei der Versammlung im Kesselhaus in der Lilienthalallee ist fast jeder Platz besetzt. Rund 150 Viertelbewohner haben auf den Klappstühlen in der alten Industriehalle Platz genommen. Von der Decke baumelt eine riesige Discokugel, von einem nahegelegenen Bandraum dringt der Bass durch. Normalerweise wird die Halle für kulturelle Zwecke genutzt. Es sind vor allem ältere Leute gekommen, aber auch Singles um die 30 oder Eltern mit Kindern im Teenageralter.

Immer eine Ungleichheit

Nachdem Bürgermeisterin Strobl einen Überblick über Projekte im Viertel aufgezeigt hat und ein Polizist Tipps zur Sicherheit gegeben hat, beginnt die Demokratie. Jeder Freimanner hat Rederecht, um einen oder mehrere Anträge zu stellen. Einzige Bedingung: Er hat nur fünf Minuten dafür Zeit. Stimmt eine Mehrheit der Anwesenden anschließend dem Antrag zu, muss der Stadtrat oder der Bezirksausschuss diesen innerhalb von drei Monaten beantworten.

Zur Bühne gehen: besorgte Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten. Eine Berufstätige, die sich über eine aus ihrer Sicht unsinnige Ampelschaltung beklagt, weil sie dort lange warten muss. Ein Rentner, der dafür plädiert, das Parken am Nordfriedhof auf zwei Stunden zu begrenzen, da sonst Firmenfahrzeuge die Plätze blockieren und ältere Menschen zu weit bis zu den Gräbern laufen müssten.

Am heftigsten wird an diesem Abend darüber gestritten, ob eine gesperrte Straße wieder für den Durchgangsverkehr freigegeben werden soll. Die einen Siedlungsbewohner freuen sich über weniger Verkehr, die anderen ärgern sich über mehr Verkehr. Schon seit Jahren herrschen auf der Bürgerversammlung kriegsartige Zustände, wenn das Thema hochkocht. Und es kocht jedes Mal hoch. Auch diesmal werden die Anträge nur ganz knapp abgelehnt.

"So ein Schmarrn", ruft einer laut dazwischen, als eine Bürgerin ihren Antrag vorliest. Ein anderer Vortragender wird heftig ausgebuht. Und ein Teilnehmer wirft Bürgermeisterin Strobl Parteilichkeit vor. Es wird getuschelt, gestikuliert und geflucht.

Wie die gleiche Debatte im Netz verlaufen wäre? Es hätte sicher ein ähnlich ruppiger Ton geherrscht. Wahrscheinlich hätten sich mehr Leute an der Diskussion beteiligt. Denn online einen Kommentar zu schreiben, erfordert weniger Aufwand als zu einer Bürgerversammlung zu gehen. Außerdem erfordert es weniger Mut, seine Meinung anonym im Internet zu äußern, als sich mit einem Antrag auf die Bühne zu stellen und den Gegnern ins Auge zu blicken. Politikprofessor Sarcinelli sagt, die Schwellen im Internet seien niedriger. Außerdem könnten die Infos die Bürger schneller und kostengünstiger erreichen.

Fest steht auch: Im Internet hätten sich ganz andere Bürger an der Diskussion beteiligt als bei der Bürgerversammlung. Wahrscheinlich jüngere, technikaffinere. Die meisten Teilnehmer im Freimanner Kesselhaus wirken nicht so, als hätten sie ein Smartphone in der Hosentasche stecken.

Sarcinelli geht noch einen Schritt weiter: "Bei Bürgerbeteiligung - ob im Netz oder analog - haben wir immer ein Repräsentationsproblem." Es würden sich ohnehin fast ausschließlich nur diejenigen engagieren, die sozial besser gestellt sind. "Es herrscht immer eine Ungleichheit", sagt der Politikprofessor.

In einer der hinteren Reihen im Kesselhaus sitzt die 37-jährige Geigenbauerin Nele Jülch, sie ist zum ersten Mal auf einer Bürgerversammlung und hat einen Antrag zu den Ampelschaltungen im Viertel eingereicht. "Man muss sich gut überlegen, was man zu sagen hat, wenn man mitmischen will", sagt sie. Sie hat fest vor, beim nächsten Mal wieder zu kommen - auch wenn ihr Antrag abgelehnt wurde. Und wenn es dann wieder nicht klappt, versucht sie vielleicht im Internet, Unterstützer zu gewinnen.

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