Messestadt Riem:Ein Viertel, zwei Welten

Messestadt Riem: 111 Nationalitäten von gutbürgerlich bis bettelarm wohnen in der Messestadt Riem - meist eher nebeneinander her, denn als gute Nachbarn.

111 Nationalitäten von gutbürgerlich bis bettelarm wohnen in der Messestadt Riem - meist eher nebeneinander her, denn als gute Nachbarn.

(Foto: Claus Schunk)

Die Messestadt Riem genießt keinen guten Ruf. Dennoch leben viele Menschen gerne hier, allerdings eher neben- als miteinander: Bettelarme und gutbürgerliche Menschen werden nur selten gute Nachbarn. Die Menschen verbindet allerdings mehr, als sie denken.

Von Stefan Mühleisen

Einfach großartig. Helma Seibl stellt die Schale mit den Äpfeln zur Seite und mustert ihre Horde. Stolz ist sie auf die Kinder, wie sie da sitzen und frühstücken. Gut drei Dutzend sind es. Mit großem Appetit machen sich Mädchen und Buben über Wurstsemmeln und Obst her. Die meisten schauen noch ziemlich müde drein, kein Wunder es ist kurz nach sieben Uhr in der Früh.

Aber Helma Seibl ist hellwach. Die Rektorin der Lehrer-Wirth-Schule betrachtet die Früchte jahrelanger Arbeit. Sie sieht den Beweis dafür, dass die Messestadt Riem eine Chance hat, wenn die Großen endlich gebacken kriegen, was für die Kleinen selbstverständlich ist. "Wenn ich das sehe, bin ich zuversichtlich, dass es dieses Viertel schafft", sagt sie.

Es ist ein normaler Tag in der Grund- und Hauptschule. Nur steht sie in keinem normalen Viertel. Die Messestadt Riem ist in den Schlagzeilen, wieder einmal. Dem Neubauareal am Ostrand Münchens haftet der Ruf eines trostlosen Ghetto-Quartiers an. Diese Woche erst hat das Sozialreferat eindinglich vor einer realen sozialen Schieflage gewarnt. Seine Analyse spricht von Armut und Perspektivlosigkeit bei Migrantenfamilien, von hohen sozialen Herausforderungen.

Tristesse trifft auf Hochglanz-Konsumwelt

Wer über den tristen Willy-Brandt-Platz durch die Hochglanz-Konsumwelt der "Riem Arcaden" zum weitläufigen Riemer Park mit dem See spaziert und sieht, wie 111 Nationalitäten hier zwischen Eigenheimtraum mit Vorgarten und Häusern mit 170 Bewohnern leben - der versteht auch warum: Bettelarme und gut bürgerliche Menschen werden hier nur mit großer Anstrengung gute Nachbarn werden.

Geahnt hat die Stadt das schon im Oktober 2000, ein Jahr nach dem Einzug der ersten Siedler, als die Verwaltung einen "Kommunikationsexperten" einsetzte. Der sollte den Investoren verklickern, dass die neue Siedlung kein Problemviertel sei, sondern "eines der interessantesten Entwicklungsprojekte in ganz Europa". Er verglich damals den jungen Stadtteil mit einem zarten Pflänzchen, das "jeglichen Schutz und jegliche Unterstützung" brauche.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das zarte Pflänzchen hat sich zwar zu einem Geäst aus Häuserblocks entwickelt, in denen etwa 12 500 Bewohner leben, viel mehr Familien als anderswo in München. Doch Menschen wie Helma Seibl wissen, dass dieses künstliche Gewächs allein immer noch nicht überlebensfähig ist.

Sie beobachtet, wie der Nachwuchs von Afghanen, Marokkanern, Irakern einträchtig seine Brote schmiert und dann die Teller in den Geschirrspüler räumt. Doch diese Eintracht ist hart erkämpft: Die Lehrer bieten seit Jahren das volle Programm der Schulsozialarbeit auf, sogar die Flüchtlingsorganisation Refugio ist präsent. So haben Seibl und Kollegen ein zartes Integrationspflänzchen herangezogen. Die Schulleiterin weiß genau: Viele der Kleinen schämen sich dafür, dass ihre Eltern den Beitrag von einem Euro pro Tag für das Frühstück ebenso wenig zahlen können wie Turnschuhe für den Sport in der Halle. "Man muss dringend etwas tun", sagt Seibl.

Das Leben in der Messestadt ist "megagenial"

Das muss man Brigitte Sowa nicht zweimal sagen. Sie ist im Vorstand vom Bürgerforum, einer Art Nachbarschaftshilfe in der Siedlung. Sie und ihre Mitstreiter tun ziemlich viel dafür, die soziale Schieflage nicht kippen zu lassen. Die 49-Jährige sitzt mit ihren beiden Töchtern Jasmin, 18, und Simone, 19, auf dem Sofa in ihrer Wohnung unweit der Lehrer-Wirth-Schule. Schöne Wohnung, Park und Badesee vor der Haustüre, die Riem Arcaden nur ein paar Minuten entfernt - "megagenial" nennt sie das Leben in der Messestadt.

Familie Sowa

"Megagenial" sei das Leben in der Messestadt: Brigitte Sowa mit ihren Töchtern Jasmin (rechts), 18, und Simone, 19 in ihrer Wohnung in Riem. Die drei Frauen engagieren sich im Bürgerforum.

(Foto: Jakob Berr)

Die Familie Sowa zählte zu den Pionieren, einer Speerspitze der Mittelschicht, die sich 1999 in dem neuen Quartier eine Eigentumswohnung gekauft haben. Schon im ersten Bauabschnitt wurden elegante, bungalowartige Häuser südlich des U-Bahnhofs Messestadt-West in die Brachlandschaft gesetzt. Das Versprechen: idyllisches Wohnen am Rande der Stadt. Den Zuzug von Menschen mit mittleren Einkommen förderte die Stadt mit dem so genannten München Modell, dazu kamen Sozialwohnungen und frei finanzierte Quartiere. Die Folge: eine kunterbunte Bevölkerungsmischung aus aller Herren Länder, darunter viele Flüchtlinge.

Brigitte Sowa mag das nicht als übergroßes Problem sehen. "Wer sich engagiert, ist auch integriert", sagt sie überzeugt. Und es gibt viele, die sich engagieren: Im Jahr 2011 haben die etwa 50 Helfer des Bürgerforums 2703 ehrenamtliche Stunden geleistet. Sie haben Sprachkurse im Familienzentrum organisiert, Plakate für Veranstaltungen geklebt, bei der Mittagsbetreuung in den Schulen mitgeholfen. Mit strengem Blick weist Sowa auf ihrem Sofa das Wort "Ghetto" zurück. Auch Jasmin und Simone schütteln den Kopf. "Jeder, der bei uns etwas machen will, der kann auch etwas machen", sagt ihre Mutter.

Das Problem dürfte indes nicht das Wollen sein, sondern das Können. Die Gemeinde der Mittelschicht-Familien ist gut vernetzt, doch zu Migrantenfamilien gibt es nur vereinzelt Kontakte. Es liegt wohl an den verschiedenen Lebenswelten: Kinder, deren Eltern ihnen keine Turnschuhe kaufen können, schlendern durch die Glitzerwelt der Riem Arcaden und sehen dort fröhlich shoppende Gleichaltrige, die sich bei Esprit, Zara und Foot Locker mit der neuesten Mode eindecken. Jugendliche aus Hartz-IV-Haushalten registrieren ihre Altersgenossen, wie sie sich in der eleganten Illy-Espresso-Bar einen Cappuccino gönnen, die Crema mit einem Smiley aus Kakaopulver überzuckert.

Das hohe Engagement der Bürger ist eine Chance

Familie Mohamed

"Mit Liebe schafft man das": Der neunfache Vater Abdirisak Mohamed ist glücklich in Riem. Oft sammelt er die Nachbarskinder ein und bringt sie für ein Fußballspiel zusammen.

(Foto: Jakob Berr)

Ein Familienbummel durch diese Einkaufswelt dürfte auch für Abdirisak Mohamed selten sein. Dennoch schaut der Mann aus seinen dunklen Augen ungläubig, wenn man ihn fragt, wie er das schafft mit neun Kindern. "Mit Liebe schafft man das", sagt er mit weicher Stimme zu der Frage nach seiner Kinderhorde aus vier Mädchen und fünf Buben. Die Großfamilie ist für ihn eine Art Naturgesetz, das mit Gleichmut gelebt werden muss.

Wie Sowa war auch der Somalier ein Pionier in der Messestadt, als er 1999 mit seiner Frau Asli Alisabriye die 5-Zimmer-Wohnung im Galeria-Haus bezog. Das ist ein Mini-Dorf-Quartier: 174 Menschen leben in dem preisgekrönten Wohnhaus, dessen weite Eingangshalle eine Glaskuppel überspannt. Vor 30 Jahren ist der Lehrer aus Mogadischu vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflüchtet; jetzt arbeitet Mohamed als Dolmetscher für die Innere Mission in einem Münchner Asylbewerberheim.

Glücklich und zufrieden lebten sie hier, sagt er und erzählt davon, wie sich die Galeria-Bewohner gegenseitig zum Essen einladen. Auch die Armut vieler Nachbarn kennt er gut. Oft sammelt er die Kinder ein, bringt sie für ein Fußballspiel zusammen. "Es reicht nicht, nur zu reden. Man muss etwas tun", sagt er. Der 58-Jährige meint damit nicht nur die Stadt, die den Benachteiligten mehr Hilfen, mehr Unterstützung bieten soll. "Wenn du arm bist, ist es schwer, selbst etwas zu tun", sagt er. Doch er hadert auch damit, dass viele in ihrem ärmlichen Verhältnissen erstarren. "Wenn du in ein Land kommst, wo alle nur ein Auge haben und du hast zwei, musst du eben eines zumachen."

So hat jede Gruppe in dem Viertel eigene, ehrenamtliche Sozialarbeiter, die sich unabhängig voneinander organisieren. Doch auch die Stadt hat erkannt, dass sie dieser Siedlung noch mehr Stützen bieten muss. "Das hohe Engagement der Bürger ist die Chance für die Messestadt", sagt Sozialreferentin Brigitte Meier. "Doch wir müssen sehr aufpassen, dass dieses Viertel nicht kippt."

Ihre Abteilung hat ein integriertes Handlungskonzept vorgeschlagen. Er sieht vor allem praktische Hilfen vor, Kompetenztrainings für Eltern etwa, wie sie ihren Haushalt besser organisieren. Abdirisak Mohamed dürfte das gefallen: Sie reden nicht nur, sie machen etwas. Und auch für den neuen Stadtteil Freiham im Westen soll die Messestadt ein Lehrbeispiel sein. "Wir wissen jetzt, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wie viele Nationalitäten auf einem Fleck wohnen", sagt Meier. "Die Mischung ist wichtig sowie die Hintergründe und Biografien der Menschen."

Deshalb sollen Sozialarbeiter bereits in Freiham sein, wenn die ersten Bewohner einziehen. In "Mannschaftsstärke" sogar.

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