Medizinischer Kunstfehler:Schwerkrank nach Schlamperei

Eine verseuchte Spritze kostete eine Patientin beinahe das Leben. Weil ihr Anwalt den Prozess scheute, muss sie die aufwendigen Therapien nun mit ihrer kleinen Rente begleichen.

Ekkehard Müller-Jentsch

Wenn bei Gerichten, Anwälten und Versicherungen die Akten geschlossen werden, sind für die Juristen und Sachbearbeiter auch die schrecklichsten Fälle von ärztlichen Kunstfehlern erledigt. Selbst die beschuldigten Ärzte gehen zumeist wieder zur Tagesordnung über. Für viele der betroffenen Patienten dauert der Leidensweg aber ein Leben lang - oft verbunden mit einem zermürbenden Kleinkrieg um die Erstattung von Medikamenten, Heil- und Reha-Behandlungen. Und dazu manchmal auch mit dem eigenen Anwalt ums Honorar.

Lore B. war an einem Montag im Juni vor fast zehn Jahren zu ihrem Orthopäden in die Sprechstunde gegangen. Rückenschmerzen plagten die damals 79-jährige Witwe. Sie erhielt eine Spritze. Kurze Zeit später bekam die Frau Schüttelfrost, dann brach sie zusammen. Im Krankenhaus musste sie in ein künstliches Koma versetzt werden, weil ein Großteil der Organe versagte. Lore B. wurde künstlich ernährt, künstlich beatmet, ihr Blut musste gewaschen werden.

Zwei Monate verbrachte die Patientin auf der Intensivstation. Es folgten innerhalb kürzerer Zeit 13 Operationen, die teilweise so dramatisch verliefen, dass das Militär mit Blutkonserven aushelfen musste.

Gesamte Rückenmuskulatur zerstört

Danach folgten viele Monate höllisch schmerzhafter Rehabilitations-Behandlungen. Dazu kamen immer wieder Hautverpflanzungen sowie drei Darm-Operationen.

Heute fehlt der Frau die gesamte Rückenmuskulatur auf der rechten Seite: unter der Haut kann man die blanken Rippen fühlen. Die trotz ihres Alters zuvor auch sportlich hochaktive Frau muss sich seither zur Vermeidung sehr schlimmer Folgeschäden mehrmals wöchentlich mühseligen Therapien unterziehen, dauernd Stützkorsetts und Gummistrümpfe tragen.

Und auch eine Perücke, weil ihre Haare nicht mehr nachwachsen. Jede Bewegung bereitet ihr heftige Schmerzen. Laufen kann sie nur mit Hilfe von Schmerzmitteln. Die Krankenakte von Lore B. ging als Lehrstück in die ärztliche Fachliteratur ein, drei OP-Videos dienen Medizinstudenten noch heute als Anschauungsunterricht.

Damals hatte sich herausgestellt, dass die anginakranke Arzthelferin des Orthopäden an jenem Juni-Montag Spritzen en bloc für den ganzen Tag vorbereitet hatte. Auf diese Weise waren die Nadeln mit Streptokokken kontaminiert worden. Mehrere Patienten wurden damit behandelt. In der Folge starben zwei Menschen, Lore B. überlebte.

Die Witwe eines verstorbenen Patienten führte einen Musterprozess gegen den Arzt. In erster Instanz stellte das Landgericht München I im Juli 2004 fest, dass in der Arztpraxis gegen die Hygienevorschriften verstoßen und dadurch die tödliche Infektion herbeigerufen worden sei. In der Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht München einigte sich die Witwe dann ein Jahr später aber mit der Versicherung des Arztes auf eine Abfindung in bis heute unbekannter Höhe, bevor das Urteil gesprochen wurde.

Der Rechtsanwalt von Lore B. scheute nun seinerseits einen Schmerzensgeld- und Schadenersatzprozess. Er überredete seine Klientin, sich ebenfalls abfinden zu lassen. Im März 2006 sollte sie bei 50 000 Euro zustimmen, die von der Versicherung "freiwillig" geboten wurden, dann besserte die Assekurranz wie im Basar nach und nach über 50.000, 60.000 und 80.000 auf 90.000 Euro nach.

Bei 100 000 gab die zermürbte Frau Mitte 2006 auf heftiges Drängen des Anwaltes hin schließlich nach. Heute ist sie verbittert, dass ihr Advokat ihr quasi gedroht habe, dass sie bei einem Prozess angesichts ihres Alters womöglich noch schlechter wegkommen könne.

Sie ist davon überzeugt, dass der Jurist willfähriger Spielball der Versicherungs-Sachbearbeiterin gewesen sei. Seit Monaten führt sie eine grimmige Korrespondenz mit dem Anwalt, weil dieser sein Honorar mit der Versicherung abgerechnet habe, aber ihr dennoch den bezahlten Vorschuss nicht mehr zurückerstatten will.

Betroffene in unterschiedliche Krankenhäuser geschickt

Lore B., die nur eine kleine Witwenrente bezieht und sich zuvor ihr Salär mit der Betreuung einer Blinden aufgebessert hatte, fühlt sich aber auch aus einem anderen Grund regelrecht über den Tisch gezogen. Denn stets hatten ihr alle behandelnden Ärzte dringend geraten, ein Schmerzensgeld nur in Verbindung mit einer kleinen monatlichen Rente zu akzeptieren.

Von diesem Geld hätte sie die vielen Unkosten für ihre diversen Heil- und Hilfsmittel bezahlen sollen, für die die normale Krankenkasse schon lange nicht mehr aufkommt. So benötigte sie etwa eine sündteure Spezialmatratze oder regelmäßige besondere Heilsalben und ständige Therapien.

Auf den dringenden Wunsch einer Rente sei ihr Anwalt jedoch nie eingegangen. "Heute geht auf diese Weise mein Schmerzensgeld für Dinge drauf, die eigentlich im Rahmen eines Schadensersatzes hätten bezahlt werden müssen", beklagt sie.

Der Orthopäde kam damals mit einer Zahlung von 50.000 Euro davon, er arbeitet heute weiter in seinem Beruf. Lore B. wirft ihm noch heute vor, damals vermutlich bewusst alle von den kontaminierten Spritzen betroffenen Patienten in unterschiedliche Krankenhäuser geschickt zu haben, um die Spuren seines groben ärztlichen Fehlverhaltens zu vertuschen.

Dadurch seien die Betroffenen zunächst falsch therapiert worden - "auch bei mir hatte man zunächst an einen Bandscheibenvorfall gedacht", sagte sie. Der Doktor hat das jedoch stets bestritten und sein Verhalten mit der Anzahl der freien Betten in den Kliniken begründet.

Derzeit unterzieht sich die chronische Schmerzpatientin Lore B. wieder einer Therapie in einer Reha-Klinik. Auch diese musste sie sich erst unter Androhung einer Klage beim Sozialgericht mühsam bei ihrer Kasse erstreiten. Aber das ist sie inzwischen gewohnt, sagt sie.

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