Maxvorstadt im Wandel:Teure Szene statt Uni-Viertel

Weniger Sachlichkeit, mehr Essen, Trinken, Shoppen: Das Viertel rund um die Universität verliert seinen studentischen Charakter. Buchläden und Copyshops weichen teuren Bars und Modeläden.

Von Anne Goebel

Wäre man auf der Suche nach einem Symbol für das neue Münchner Univiertel, für den radikalen Wandel des Karrees um die Amalien- und Schellingstraße: Nichts würde sich besser eignen als das Nebeneinander zweier Läden, die doch entfernter nicht sein könnten. Das Antiquariat Kitzinger, 1892 gegründet, ist ein Bollwerk des akademischen München, mit Messingklinken und Türrahmen aus geschnitztem Holz. Im Inneren: 60 000 Bücher, alte und sehr alte, ein Schatz eigentlich, aber Bernhard Kitzinger ist sich da nicht mehr so sicher.

Seine Auslage bestückt er trotzdem weiter mit seltenen Drucken, sorgfältig ausgewählten Erstausgaben. Im Schaufenster daneben steht die aktuelle Frühjahrsware für den Schnellzugriff in neonbunter Blüte. Schmuck, Sandalen, das unvermeidliche Flatterkleidchen - zu haben bei "Kauf dich glücklich". Eine bizarre Nachbarschaft, und wer den Wechsel einmal ausprobiert hat von den still dämmernden Kammern der Gelehrsamkeit hinüber zur Gute-Laune-Boutique, der bekommt einen Eindruck davon, welche Operation am Herzen der Maxvorstadt gerade im Gange ist.

Weniger Sachlichkeit, mehr Essen, Trinken, Shoppen: Das ist die neue Linie in dem Areal hinter den Universitätshauptgebäuden, wo an einem Wochentag gegen halbzehn Uhr vormittags der Betrieb so langsam in Schwung kommt. Diesige Morgensonne in der Schellingstraße, der U Bahn-Schacht spuckt im Drei-Minuten-Takt rudelweise Studenten aus, an der Amalienstraße rüsten sich die Futterstationen für den Tag. "Black Bean", "Deli Star" und "El Gusto", "Fresh Lounge", "Nam nam" und die "Familienbäckerei": Neben der steigenden Anzahl verräterisch oft wechselnder Modeshops scheint hier inzwischen jeder zweite Betrieb eine Gastronomie zu sein, weshalb sich nicht mehr ganz jungen Semestern die Frage aufdrängt: Gibt's eigentlich die Mensa noch?

Dass die einen Block weiter gelegene Türkenstraße als Restaurantzone mit eingestreuten Lifestyle-Läden munter floriert, ist ja schon lange keine Neuigkeit mehr. Jetzt rücken Wirte und Modeleute weiter vor: Richtung Ludwigstraße mit ihren streng klassizistischen Fassaden und zumindest optisch manchmal recht unmunteren Lehrgebäuden. "Jedenfalls probieren sie es", sagt Jens Raderschall und rückt die Stapel zurecht auf den Büchertischen vor seinem Geschäft. Er ist Filialleiter bei "Buch und Töne", als modernes Antiquariat eine der letzten Buchhandlungen im Viertel. Goltz existiert längst nicht mehr, die Basis-Buchhandlung musste nach 40 Jahren aufgeben, bei der 1879 gegründeten Universitätsbuchhandlung Heinrich Frank hängen die "Leider geschlossen. Danke"-Plakate seit Monaten in den schmutzigen Fenstern.

Dass das Sterben der Traditionsläden allein am verschulten Studium liegen soll oder an der Konkurrenz der Internetanbieter, findet Raderschall als Erklärung zu simpel. "Klar, Onlinehandel ist böse, die Studenten lesen nicht mehr und konsumieren bloß. Das ist mir viel zu kulturpessimistisch, zu billig", sagt der 36-Jährige. Für ihn liegt das Problem ganz einfach bei den Kosten. Es seien die üblichen Stationen der Neuordnung: Umwandlung der Mietshäuser in schicke Eigentumswohnungen, Explosion der Gewerbepacht, kurz, die schrittweise Aufwertung des Viertels, was ja nichts anderes bedeutet als: Alles wird teurer.

Eine Bekannte mit einem Laden um die Ecke habe ihm erzählt, ihre Miete sei von vier- auf sechstausend Euro angehoben worden. "Da können viele nicht mehr mit", sagt Raderschall, der nicht den Eindruck macht, als verdiene er sich mit den "Büchern zu feinen Preisen" eine goldene Nase. Und viele Gastronomen, oft "risikobereite Einzelkämpfer", versuchten eben aufzuspringen auf den Zug, in kurzer Zeit möglichst viel abzuschöpfen. Mit unsicheren Erfolgsaussichten. "Die Fluktuation ist groß. Wir haben ständig neue Leerstände", sagt der zweifache Familienvater, ein Diplom-Dramaturg mit 15 Semestern auf dem Buckel.

Bunter und lebhafter

Harte Zeiten also im Schatten der Alma Mater. Wer hier seinen Abschluss als Geisteswissenschaftler im vergangenen Jahrhundert gemacht hat, als der Millenniumswechsel noch ein paar Ringvorlesungen entfernt und das elegante Historicum mit der sandfarbenen Front erst in Planung war, kann beim Spaziergang nostalgisch werden. Wobei es natürlich ein paar Konstanten gibt. Die große blühende Kastanie am Hintereingang zur Universitätsbibliothek; die traditionsreiche Buchbinderei Georg Konrad, neuerdings mit iPad-Hüllen im Sortiment; das Seminargebäude Schellingstraße 3, wo es mit den fahlblau gestrichenen Betonsäulen, den Schalenbänken aus Kunststoff immer noch aussieht wie in einer nordenglischen Schulkantine, die dringend von Jamie Oliver gerettet werden muss.

Draußen quert ein abwesend wirkender Herr mit weißem Haar unter dem Radlhelm und ausgebeulter Ledertasche die Straße, in den Schaufensterauslagen liegen Sonnenbrillen für 350 Euro, und gegenüber vom "Atzinger" mit verlässlich billigem Mittagessen gibt es Frozen Joghurt to go: Eine ziemlich wilde Mischung aus akademischem Fluidum, Studentenpreisen und den beharrlich vordringenden Kräften einer zahlungskräftigen Klientel mit Hang zum Hedonismus, die hippe Restaurants wie das "Theresa" liebt oder die Bar "James T. Hunt". Das hat die Gegend bunter gemacht, auch lebhafter, und manche sagen: Wenn jetzt die Zeit stehen bliebe, könnte die Mixtur als junger, überraschender Puls der Stadt vielleicht gar nicht so schlecht funktionieren.

Wobei es für Christoph Buhmann keinen Zweifel gibt, dass die Verluste groß sind - und ein Element die Oberhand gewinnt. "Das ist ein Ausgehviertel geworden. Abends sind die Lokale voll, aber nicht nur mit Studenten", sagt der Betreiber des "Digitaldruckzentrums München" mit mehreren Läden, die früher Copyshops hießen. Buhmann ist seit 1988 im Geschäft. Und seit einigen Jahren falle ihm die Veränderung seines angestammten Quartiers massiv auf, auch wenn es ihm, darauf legt er Wert, "immer noch taugt". Schickere Leute, neue Arten von Gastronomie: Buhmann zählt das fast amüsiert auf, wenn nur die Mieterhöhungen und Auftragsrückgänge in der eigenen Branche nicht wären. In den Neunzigerjahren gab es 16 Copyshops in der Umgebung, heute sind es nur noch sieben. Er selbst müsse herbe Umsatzeinbußen verkraften, seit Bachelor und Master ein effizientes Studieren forcierten mit weniger ausschweifendem Lese- und Kopierverhalten.

Lukas, Julian und Paul kennen es gar nicht anders. Die drei Kommilitonen, alle um die 20 und Studenten der Medieninformatik im zweiten Semester, schieben ihre Räder gerade an einer großen Parfümeriefiliale vorbei. Sie seien ganz froh über vorgegebene Skripten, weil das die Kosten für Bücher und Ausdrucke in Grenzen halte. Studieren in München sei teuer genug, ein Zimmer in Uninähe unerschwinglich: Das wiederholt jeder Student, jede Studentin, die man fragt. Ausgehen? Nicht im Viertel. "Hauptbahnhofgegend", sagt Julian. Die Bars in der Maxvorstadt findet er - ein Moment des Zögerns - "gehoben". Was wiederum Christian Hildebrand gefallen dürfte, der sein Lokal "Nudo" bewusst an schmalen Budgets vorbei konzipiert hat. Es ist einer der vielen Neuzugänge mit Schiefertafeln und Holzbänken. Hildebrand und sein Kompagnon, beide erfahren in der Münchner Szene, setzen auf puristisch-feine Küche, regionale Zutaten und nicht zu niedrige Preise. Da draußen, Hildebrand deutet auf die Amalienstraße, "geht die Tendenz nach oben".

Was Bernhard Kitzinger betrifft, Herr über 60.000 Bücher, so sieht er sich als Vertreter einer untergehenden Spezies. Der Antiquar führt den familieneigenen Betrieb in der vierten Generation, er tue es mit Leidenschaft, aber sein Sohn "soll etwas Gescheites lernen. Ich werde der Letzte sein". Die Geschäfte gehen mäßig, die nächste Mieterhöhung werde er nicht mehr stemmen können. Der 54-Jährige, der aussieht wie eine Mischung aus Michel Foucault und dem Dalai Lama, berichtet von der scharfen Konkurrenz mehr als fragwürdiger Anbieter im Internet, die die Preise für alte Bücher und Drucke ruinierten. Vom straffen Zeitplan im Unialltag, der kaum noch Laufkundschaft in sein ehrwürdiges Geschäft bringe, weder Dozenten wie den Spezialisten für Kirchengeschichte, jahrzehntelang ein famoser Kunde, noch entdeckungsfreudige Studierende. "Heute hat keiner mehr Zeit zu stöbern", sagt Kitzinger und breitet die Arme aus, als wollte er das Regal mit den Kunstbänden vor sich umarmen. "Ich meine wirklich stöbern", fügt er an - nicht das, was im Netz als billige Kaufhilfe damit gemeint sei.

Das also ist die eine Sache. Der Niedergang der alten Antiquariate und das irgendwann bevorstehende Ende der Firma Kitzinger. Die andere ist der Wandel des Münchner Studentenviertels. Bernhard Kitzinger fragt mit seinem unergründlichen Lächeln: Studentenviertel? "Das ist das Univiertel, aber eigentlich kein Studentenviertel mehr."

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