Ludwigvorstadt:Der Mantel der Barmherzigkeit

Ludwigvorstadt: Kunst, die zum Nachdenken anregen will: Was für das Londoner East End gilt, lässt sich auch auf München übertragen.

Kunst, die zum Nachdenken anregen will: Was für das Londoner East End gilt, lässt sich auch auf München übertragen.

(Foto: Robert Haas)

Die Kirche St. Paul präsentiert an der Westpforte eine bemerkenswerte Videoinstallation

Von Franziska Gerlach, Ludwigvorstadt

In sattem Blau quillt er unter dem Gitter hervor, alle drei Minuten aufs Neue. Zentimeter um Zentimeter verleibt sich der schwere Samtstoff die Stufen ein - die Stufen zu einem Haus im Londoner East End. De facto flattert das intensive Blau aber auch über die Westpforte von St. Paul an der Theresienwiese. Dort, wo der neugotische Kirchenbau gerade saniert wird, ein paar Meter vom Oktoberfest entfernt.

"Maria breit den Mantel aus (East End)" hat die Schweizer Künstlerin Judith Albert ihre Videoinstallation genannt, sie wird bis zum Ende des Jahres der Barmherzigkeit am Christkönigsfest, dem 20. November, nach Einbruch der Dunkelheit gezeigt. Das Video entstand 2011 im East End, einem von Migration und sozialen Problemen geprägtem Stadtteil Londons, der aber auch bunt ist, lebendig.

"Das passt gut ins Viertel", sagte Ulrich Schäfert, Leiter der Kunstpastoral des Erzbistums München und Freising, bei der Vernissage am Sonntagabend. Er meint damit die Straßen um den Münchner Hauptbahnhof. Mit der Kunstaktion ansprechen will die Kirche auch diejenigen, denen man eine Stippvisite am Altar jetzt nicht unbedingt zugetraut hätte: die Gäste des Oktoberfestes. Doch wenn man das Meer an brennenden Lichtlein in St. Paul betrachtet, scheinen auf dem Weg zum Festgelände tatsächlich viele von ihnen einen Abstecher in die Kirche zu unternehmen. Judith Albert aber habe es insbesondere die "Baustellensituation" an der Westseite angetan, so Schäfert. Ihre Videoarbeit im Inneren der Kirche zu zeigen, sei ihr dagegen viel zu naheliegend gewesen. Die Schweizer Künstlerin liebe Kontraste, das Ambivalente, und gerade dadurch rege ihre Kunst zum Nachdenken an. "Das ist es, was sie auszeichnet", sagt Schäfert. Er kennt Albert von der Gruppenausstellung "Die Gabe", die zum Jahreswechsel 2015/2016 in St. Paul zu sehen war. Dass nun, Monate später, ein Mantel an der Westpforte weht, bietet natürlich Raum zur Interpretation. Das Alte Testament beschreibt diesen immerhin als das Kleidungsstück, das man einem Menschen auf keinen Fall nehmen dürfe. Im Mittelalter bot ein Mantel sogar Rechtsschutz. Und es ist gewiss kein Zufall, dass Alberts Umhang Blau ist wie das Gewand der Mutter Gottes. Wie Benita Meißner, Geschäftsführerin der Gesellschaft für christliche Kunst, erläuterte, dürfe der fließende Stoff aber auch als Anlehnung an die Schleier der bengalischen Frauen verstanden werden, die das Straßenbild im East Ende prägten.

Und plötzlich sind sie da, die Gedanken über Schutz und Bevormundung, Vertrauen und Barmherzigkeit. Als im Juli ein Amoklauf die Stadt erschütterte, setzten die Münchner Papst Franziskus' Aufruf, die Pforten zu öffnen, vorbildlich um und ließen fremde Menschen in ihre Häuser. Das junge Pärchen aber, das zwischen Sonntagabend-Tatort und Wiesn-Gaudi durch den Regen hastet, bemerkt weder die Videoinstallation noch die drei Obdachlosen, die in einem Portal um die Ecke eine Matratze ausgerollt haben. Dabei hätten sie einen Mantel der Barmherzigkeit vielleicht nötig. Oder zumindest eine Decke, die sie wärmt.

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