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Sechs Mitarbeiter der Stadtbibliothek empfehlen ihre Lieblingsbücher - vom düsteren Thriller bis zum Ratgeber

Von Günther Knoll

Bestseller-Listen, Rezensionen, Blogs - es gibt viele Orientierungshilfen für den Bücherfreund. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Münchner Stadtbibliothek sehen sich trotzdem oft genug mit der Frage konfrontiert: Was soll ich lesen? Die Bibliothek hat deshalb die Reihe "Lesezeichen" ins Leben gerufen. In den verschiedenen Münchner Stadtteilbüchereien geben die Fachleute der Bibliothek in gemütlicher Runde Buchtipps. Die SZ hat sechs von ihnen nach ihren Favoriten gefragt:

"Lesezeichen": In die Arktis entführt die Lieblingslektüre von Doris Reinwald den Leser.

In die Arktis entführt die Lieblingslektüre von Doris Reinwald den Leser.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Abgründe an Bord

Doris Reinwald genießt die "Lesezeichen"-Termine und den persönlichen Kontakt zu den Büchereibesuchern. "Es ist doch unsere ureigenste Aufgabe, Bücher zu empfehlen", sagt die für den Bereich Belletristik zuständige Lektorin der Stadtbibliothek. Reinwald empfiehlt derzeit "Nordwasser" von Ian McGuire. Der Roman spielt im 19. Jahrhundert auf einem Walfangschiff, das auf dem Weg in die Arktis ist. "Sehr düster", findet Doris Reinwald den Roman, aber "sehr "unmittelbar" und so authentisch geschildert, "dass der Leser die Atmosphäre dieser brutalen Männergesellschaft an Bord "geradezu riechen kann". Dazu komme die Beschreibung der "grausam-schönen" Landschaft im Nordpolarmeer. Sie habe das Buch über Ostern "in einem Zug" gelesen und sei danach überrascht gewesen, als sie draußen Sonnenschein und Vogelgezwitscher wahrgenommen habe, sagt Reinwald. Das Buch behandle "zeitlose Fragen" über die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens, so dass es einen gerade zu dazu zwinge, nach der Lektüre mit anderen darüber zu reden.

"Lesezeichen": Spezialist für Sachbücher ist Kai Scheuing, er empfiehlt einen Ratgeber fürs Leben.

Spezialist für Sachbücher ist Kai Scheuing, er empfiehlt einen Ratgeber fürs Leben.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Glücksrezepte

Seit gut zehn Jahren arbeitet Kai Scheuing als Bibliothekar für die Stadtbibliothek, sieben Jahre davon im Gasteig. Erst neulich, berichtet er, habe eine Kundin dort zu ihm im Aufzug gesagt; "Sie haben den schönsten Arbeitsplatz der Welt!" Vorsicht mit dem Superlativ, denn seine Arbeit bestehe bei weitem nicht nur aus Lektüre, sagt Scheuing, aber trotzdem gehört die Verquickung von Berufung und Beruf auch zur "Kunst des guten Lebens". Dieses Sachbuch mit dem Untertitel "52 überraschende Wege zum Glück" empfiehlt Scheuing derzeit den Lesern. Der Autor Rolf Dobelli, der schon mit den Ratgebern "Die Kunst des klaren Denkens" und "Die Kunst des klugen Handelns" Bestseller geschrieben hat, gebe in kleinen Aufsätzen "mentale Werkzeuge" als Lebensanleitung und zum besseren Verständnis der Welt. Denn die sei viel zu kompliziert, als dass man sie mit einer einzigen großen Idee oder einer Handvoll Prinzipien erfassen könnte. Dobelli arbeite, sagt Scheuing, gekonnt mit Anleihen aus der Psychologie, der Verhaltenstherapie, der Philosophie, aber auch aus der Betriebswirtschaft und dem Investmentgeschäft, sodass die einzelnen Kapitel kurzweilig und spannend zu lesen seien.

"Lesezeichen": Eine literarische Auswahl hat Nadine Paulitschke zusammengestellt, sie hat mehrere Favoriten..

Eine literarische Auswahl hat Nadine Paulitschke zusammengestellt, sie hat mehrere Favoriten..

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Knastgeschichten

Nadine Paulitschke kann sich gar nicht so recht entscheiden für nur einen Lieblingstitel; die Bibliothekarin aus der Sendlinger Stadtbücherei empfiehlt gleich vier. Da ist einmal "Moabit" von Volker Kutscher. Kenner, die einen neuen Krimi mit Kommissar Gereon Rath vermuten, liegen falsch, es geht diesmal um Raths Freundin Charly Ritter. Paulitschke schwärmt vor allem von den "tollen Illustrationen" der Zeichnerin Kat Menschik, die einen "kurzweiligen" Blick auf das Berlin der Zwanzigerjahre gewährt. Eine ganz andere Welt erleben könne der Leser mit dem Roman "Der Boxer" von Szczepan Twardoch, der sehr brutal den Aufstieg eines Verbrecherhelden zwischen Gewalt, Eleganz und Laster sowie seine Verletzlichkeit als Jude und Vater beschreibe. "Ergreifend und unbedingt lesenswert" findet sie außerdem "Mercy Seat" von Elizabeth H. Winthrop, ein Buch, das auf der wahren Geschichte eines 18-Jährigen basiere, der zu Unrecht zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wurde. Und schließlich empfiehlt Paulitschke noch den Roman "Eine amerikanische Familie" von Lionel Shriver. Scharfsinnig und ironisch beleuchte diese die Folgen von Globalisierung und Nationalismus - für Paulitschke eine Zukunftsvision, "die vorstellbar ist".

"Lesezeichen": Märchenhaft ist der gegenwärtige Buchfavorit von Katja Hahn.

Märchenhaft ist der gegenwärtige Buchfavorit von Katja Hahn.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Unbekannte Märchen

Vorwiegend mit Kinder- und Jugendmedien beschäftigt sich Katja Hahn aus der Stadtteilbibliothek Sendling, das sei "ein Schatz" auch für Erwachsene, wie sie meint. Und aus diesem Schatz hat Hahn eine ganz besondere Empfehlung: "Das Flüstern des Orients", eine Sammlung arabischer Märchen, erzählt und illustriert von Franziska Meiners. "Neu und wichtig" seien diese Märchen, in denen Kinder wie Erwachsene viel über die Menschen, das Leben und die Lebensweise in den Ländern des Orients erfahren könnten, sagt Katja Hahn. Dazu, so schwärmt sie, sei das Buch auch noch "wunderschön illustriert". Was das Lesen noch spannender mache, seien die vielen Exkurse in dem angehängten Glossar, "einer Art Mini-Lexikon", in dem man zum Beispiel auch einiges über die arabische Schrift erfahren könne. "Märchenbücher gehen immer gut", weiß Katja Hahn aus Erfahrung, vor allem, wenn sie noch ziemlich unbekannte Erzählungen enthielten.

"Lesezeichen": Zu einem Fan von Stephen Kings Horrorgeschichten wurde Annette Müller.

Zu einem Fan von Stephen Kings Horrorgeschichten wurde Annette Müller.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Traumwelten

Seit 17 Jahren leitet Annette Müller die Bibliothek in der Maxvorstadt. Bestsellerautor Stephen King habe sie dabei früher immer vor allem mit Horror in Verbindung gebracht. Bis sie seine Biografie las. Die habe ihr Interesse geweckt und so stieß sie auf Kings neuesten Thriller, den er zusammen mit seinem Sohn Owen verfasste: "Sleeping Beauties". Darin gehe es um ein faszinierendes Phänomen: Sobald Frauen einschlafen, umhüllt sie ein spinnwebenartiger Kokon. Wenn man sie weckt oder das Gewebe entfernen will, werden sie zu Bestien. Im Schlaf aber befinden sie sich in einer Parallelwelt, "in einem viel schöneren Leben, ohne Männer", sagt Müller. Sie habe herauszufinden versucht, wer denn welche Passage geschrieben habe, doch das Buch sei "aus einem Guss". Und das bei fast tausend Seiten. Doch es werde nie langweilig, denn "es ist so viel drin", schwärmt Annette Müller, angefangen bei literarischen Stellen, wenn King beispielsweise einen Sonnenfleck beschreibe, über gekonnte Cliffhanger bis zur Gesellschaftskritik. King sei eben ein "großer Fabulierer, er kann es einfach".

"Lesezeichen": Verschlungene Schicksale behandelt das Lieblingsbuch von Eva Liebl.

Verschlungene Schicksale behandelt das Lieblingsbuch von Eva Liebl.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Verwobene Schicksale

Eva Liebl pendelt täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrem Arbeitsplatz in der Bibliothek in der Maxvorstadt, da bleibt ihr einige Zeit zum Lesen. Eigentlich habe sie sich auf das Gebiet Fantasy und Science Fiction spezialisiert, sagt sie, doch sie beschäftige sich auch mit anderen Neuerscheinungen. Der Roman "Der Zopf" von Laetitia Colombani werde "ziemlich breit beworben", das habe sie neugierig gemacht. Hundert Seiten, dann wisse sie, ob ein Buch lesenswert sei. Und das sei der Erstling der Französin, die Filmschauspielerin und Regisseurin ist, unbedingt. Colombani beschreibe darin die Schicksale dreier Frauen, die sich nicht kennen und deren Leben doch miteinander verwoben ist; eine Inderin aus der untersten Kaste, die ihrer Tochter ein besseres Leben ermöglichen will, eine Sizilianerin, die entdeckt, dass das Familienunternehmen, eine Perückenfirma, vor dem Ruin steht, und eine Anwältin aus Montreal, die erfährt, dass sie schwer krank ist. Liebl ist nicht nur von der "schönen nüchternen Sprache" beeindruckt. Im Grund behandle das Buch die Frage, wie Frauen in schwierigen Situationen ihr Leben gestalten. "Das hat mich noch weiter beschäftigt", sagt Eva Liebl.

Die nächsten "Lesezeichen"-Termine in den Stadtbibliotheken: Freitag, 20. April, um 10.30 Uhr in Giesing; Dienstag, 24. April, um 18 Uhr im Westend; Mittwoch, 25. April, um 17 Uhr im Hasenbergl; Donnerstag, 26. April, um 10.30 Uhr in Berg am Laim.

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