Lehrerin unter Exhibitionismus-Verdacht:Nackt oder nicht nackt

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Eine Lehrerin zieht sich vor der Klasse um, ohne dass viel zu sehen ist. Zehn Monate lang ermittelt das Münchner Personalreferat wegen einer angeblichen Belästigung der Schüler. Am Ende wird die Frau entlastet. Doch sie leidet bis heute.

Bernd Kastner

Es sind ein paar Sekunden, die als "Vorfall" in die Akten eingehen. So nennen städtische Ermittler das, was sich im Dezember vergangenen Jahres an einer Münchner Schule abgespielt hat. Als "Umziehen vor der Klasse" wird dieser Vorfall im Personalreferat der Stadt München näher bezeichnet, und als "Grenzüberschreitung" gewertet. Es geht um einen eventuell sichtbaren nackten Rücken einer Lehrerin und um den Büstenhalter dieser Frau, ebenfalls möglicherweise sichtbar, von hinten vermutlich. Das löst ein zehnmonatiges Ermittlungsverfahren aus, an dessen Ende die Lehrerin sagt: "Was mir angetan wurde, war furchtbar."

Weil sich eine Lehrerin (Symbolbild) nach Aussage einer Schülerin nackt ausgezogen haben soll, wurde gegen sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet - und später eingestellt. Die Lehrerin leidet bis heute darunter. (Foto: ddp)

Am Anfang steht das Wort vom Exhibitionismus. Das ist, als eine elfjährige Schülerin im Rahmen eines Selbstbehauptungstrainings Ende 2009 sagt: "Unsere Lehrerin hat sich nackig ausgezogen." Dieser Satz alarmiert diverse Pädagogen. Über mehrere Stationen, fast wie bei der "stillen Post", erfährt auch die Leitung der Schule von dieser Geschichte, die nun ein "Vorfall" zu werden beginnt. Spätestens, als die "Zentrale Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung" im Personalreferat eingeschaltet wird. Die Mädchen empfanden das Verhalten ihrer Lehrerin, als "übergriffig", es mache ihnen "sehr zu schaffen", wird in den Akten vermerkt.

Was war passiert? Marta Koch (Name geändert), eine Frau mittleren Alters, unterrichtet eine Fremdsprache an dieser Münchner Schule. Sie soll im Unterricht vor einer reinen Mädchenklasse ihren Pulli ausgezogen haben, es war ihr zu warm geworden. Darunter trug sie ein Top, das sie links herum anhatte. Als ihre Schülerinnen sie darauf aufmerksam machten, zog sie dieses schnell aus und richtig herum wieder an. War sie dabei nackt? War ihr BH zu sehen? Wenn ja: Direkt oder nur indirekt durch ein Unterhemd durchscheinend? Und obendrein, was hat es mit jenem "Nacktfoto" auf sich, das Marta Koch ihren Schülerinnen gezeigt haben soll?

Das Personalreferat leitet ein Disziplinarverfahren ein: Die Lehrerin habe sich vermutlich "sittlich" nicht korrekt verhalten. Solche Berichte von Kindern dürfe man nicht auf die leichte Schulter nehmen, sagt Angelika Beyerle, die Vize-Chefin des Referats. Man wisse inzwischen ja, was an sexuellen Übergriffen so alles geschehen könne. Da bleibe keine andere Wahl, als zu ermitteln und die Wahrheit zu erforschen. Denn die Aussagen der Schülerinnen und der Lehrerin widersprechen sich in Details. Was, wenn man dieser vielleicht harmlosen Geschichte nicht nachginge, und später passierte etwas wirklich Gravierendes?

Ermitteln will das Rathaus, indem es die elfjährigen Mädchen befragt. Im Mai wird das erste Kind samt Mutter ins Rathaus bestellt. Dort sitzt es einem "Ermittlungsführer" gegenüber, einem Schriftführer und dem Anwalt der Lehrerin, Gerd Tersteegen. Die Herrschaften wollen wissen, wie lange das Umziehen dauerte, ob der Pulli V-Ausschnitt hatte oder nicht, ob die Lehrerin alles ausgezogen habe oder nicht. Nach einer Stunde verlässt das Kind das Rathaus, weinend. Die weiteren Vernehmungen werden daraufhin abgesagt. Statt dessen schickt das Referat Fragebögen an alle Kinder, sie heißen "Anhörungsschreiben". Auf ihnen sollen sie das Beobachtete genau schildern.

28 Schülerinnen antworten. Das Ergebnis ist keineswegs eindeutig, aber wer hätte das schon erwartet, ein halbes Jahr danach: Neun Schülerinnen erinnern sich, den BH "unmittelbar" gesehen zu haben; fünf schreiben, sie hätten ihn durch das Unterhemd "durchscheinen" sehen; sechs haben zwar das Umziehen bemerkt, aber gar keinen BH gesehen; und acht Mädchen können sich "an keinen Vorfall" erinnern. Außerdem divergieren die Erinnerungen der Kinder auch "in Hinblick auf die Position der Beamtin im Klassenzimmer".

Und die Sache mit dem Nacktfoto? Marta Koch hat, so sagt sie, den Schülerinnen auf deren Wunsch ein Bild von sich und ihrem Hund gezeigt. Man sieht sie sitzend, ein Akkordeon auf dem Schoß. Spaßeshalber habe sie "Nacktfoto" dazu gesagt, weil man genauer hinschauen muss, um ihr Kleid zu erkennen, das Instrument verdeckt es fast ganz. Die Aussagen der Schülerinnen auf den Fragebögen ergeben auch hier ein uneinheitliches Bild: Die einen haben auf dem Foto eine nackte Lehrerin in Erinnerung, die anderen eine angezogene.

Aus all diesen Berichten der Mädchen folgert das Personalreferat, dass sie die ursprünglichen Vorwürfe gegen Marta Koch "nicht in hinreichender Weise bestätigen". Man einigt sich mit der Lehrerin auf eine nunmehr offizielle Version, "zu ihren Gunsten": Beim Umziehen des Tops sei "möglicherweise" das darunter befindliche Unterhemd "ein wenig" hochgerutscht.

Das Disziplinarverfahren wird eingestellt, und auch von einer schriftlichen Missbilligung sieht das Personalreferat ab. Zum einen, weil Marta Koch sich entschuldigt, ihr Verhalten reflektiert und anerkennt, dass das "Umziehen vor der Klasse" als "nicht akzeptable Grenzüberschreitung" betrachtet werde. Und auch, weil sie unter den Auswirkungen von ein paar unbedachten Sekunden sehr gelitten hat: Einige Wochen lang war sie wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Der Vorwurf, sich unsittlich verhalten zu haben, das Wort vom Exhibitionismus, lastet schwer auf ihr. Dabei habe sie doch nichts Böses im Sinn gehabt.

Immerhin, inzwischen fühlt sich Marta Koch "freigesprochen" durch die Einstellung: "Ich bin keine Exhibitionistin." Ihr Anwalt Tersteegen betrachtet sich als Sieger und seine Kontrahentin im Rathaus, Angelika Beyerle, ist auch zufrieden. Sie freue sich, sagt sie, dass sich die Lehrerin einsichtig gezeigt habe und so der erwünschte "pädagogische Effekt" erzielt sei.

© SZ vom 30.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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