Lehrer im Interview:"Die Pädagogik kommt völlig zu kurz"

Gymnasium aus der Innensicht: Lehrer Hans-Ulrich Hesse über unmotivierte Schüler, ängstliche Lehrer und Eltern ohne Präsenz.

Christa Eder

Hans-Ulrich Hesse, 63, ist Studiendirektor am Städtischen Werner-von-Siemens-Gymnasium. Nächstes Schuljahr geht der Chemie- und Sportlehrer, nach 31 Dienstjahren, in den Ruhestand. In all den Jahren hat er sämtliche Betreuungsfunktionen, vom Personalrat bis zum Kollegstufenbetreuer durchlaufen und war zwischenzeitlich auch ein Jahr in der Verwaltung. Hesse kennt den Schulbetrieb wie seine Westentasche und hat zu seinem Arbeitgeber ein "ausgesprochen gutes Verhältnis", wie er betont. Den Schulbetrieb sieht er allerdings kritisch.

Lehrer im Interview: Findet, dass die Lehrerausbildung verändert werden muss: Der Studiendirektor Hans-Ulrich Hesse.

Findet, dass die Lehrerausbildung verändert werden muss: Der Studiendirektor Hans-Ulrich Hesse.

(Foto: Foto: Alessandra Schellnegger)

Süddeutsche Zeitung: Sie sind seit 31 Jahren im Dienst. Sind Sie eigentlich noch gerne Lehrer?

Hans-Ulrich Hesse: Ich bin nach wie vor gerne Lehrer. Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Pensionierung herbeisehnen, ich habe kein Burnout-Syndrom und habe mich nie für ein Altersteilzeitmodell interessiert. Mir macht Schule nach wie vor Spaß. Nach einem Kurzausflug in der Verwaltung habe ich schnell wieder den Rückzug angetreten, weil ich wieder in die Schule zurück wollte.

SZ: Sie können die Kollegen, die über ihren Job klagen, nicht verstehen?

Hesse: Diejenigen, die schimpfen, sind meines Erachtens fehl am Platz. Es stimmt einfach nicht, dass die Lehrer eine 60-Stunden-Woche haben, wie der Philologenverband immer wieder ausrechnet. Schule ist ein Saisonbetrieb. Manchmal gibt es mehr zu tun, dann kommen wieder ruhigere Phasen.

SZ: Sind sie Lehrer aus Verlegenheit?

Hesse: Viele sind Lehrer geworden, weil sie drei Monate Ferien haben, durch das Beamtentum abgesichert sind oder auch aus familientaktischen Überlegungen. Nirgendwo lässt sich Familie und Beruf so gut unter einen Hut bringen wie im Lehrerberuf. Das ist aber nicht förderlich. Man müsste dafür sorgen, dass die richtigen Leute Lehrer werden.

SZ: Wie kriegt man die Geeigneten?

Hesse: Über eine Auswahl. Die Leute müssen sich vorher im Klaren sein, was auf sie zukommt. Ich habe daher schon öfter die Forderung gestellt, Lehramtskandidaten müssten vor dem Studium in die Schule - und zwar ein ganzes Jahr.

SZ: Das heißt, auch die Lehrerausbildung sollte verändert werden?

Hesse: Die sollte nicht, die muss verändert werden. Mit Zwischendurchpraktika während des Studiums gewinnt man keinen Einblick in den Schulalltag. Erst wenn man das Lehrersein wirklich gelebt hat, weiß man es. Dasselbe gilt für die fachliche Ausbildung. Ich habe Dinge studiert, die ich in meiner Praxis nie gebraucht habe. Das ganze Fachwissen umfasst die Schulchemie ja gar nicht. Andererseits hätte ich Vieles gebraucht, das mir kein Professor beigebracht hat.

SZ: Die Lehrerausbildung geht also am Ziel vorbei?

Hesse: Aus meiner Sicht total.

Lehrerausbildung: Was sich ändern müsste

SZ: Was müsste sich ändern?

Hesse: Die Pädagogik kommt völlig zu kurz. Wir sind in der Pädagogik nicht ausgebildet worden, auch in der Phase des Referendariats lächerlich wenig. Natürlich brauche ich auch ein fundiertes Grundwissen, heute bin ich an der Schule aber in erster Linie als Pädagoge gefragt, und das hat uns niemand in der Ausbildung vermittelt. Bei den Hauptschullehrern findet das ja statt. Sie werden zurecht Pädagogen genannt.

SZ: Wie hoch sollte der Pädagogikanteil sein? 50 Prozent?

Hesse: Das wäre angemessen. Meine Arbeit besteht je zur Hälfte aus pädagogischem Wirken und Fachkenntnissen.

SZ: Das Problem ist seit Jahren bekannt, warum passiert nichts?

Hesse: Die Schuld liegt beim Staat. In Zeiten, in denen man sich politisch profilieren will, betont man zwar, dass sich etwas ändern muss, nach der Wahl wird dann aber nicht mehr darüber geredet.

SZ: Wie ist Ihr Verhältnis zum G8?

Hesse: Ich bin mit dem G9 verwachsen und habe zum G8 ein eher gespaltenes Verhältnis. Nicht, weil mir das G9 lieb und teuer ist, sondern weil mir das G8 in dieser Form überhaupt nicht gefallen kann. Wenn ich ein Haus baue und ich fange mit dem Dach an, ohne vorher das Fundament zu bauen, kann es nicht klappen. Diese Warnungen haben wir an allen möglichen Stellen geäußert, doch sie wurden alle in den Wind geschossen. Und das sind all die Dinge, die heute nicht klappen.

SZ: Zum Beispiel?

Hesse: Die Gymnasiasten haben keine Zeit mehr für den Sport oder andere Hobbys wie Musikunterricht oder Jugendgruppen. Aber ich stelle das ganze Konzept in Frage. Das G8 ist meines Erachtens eine absolute Mogelpackung . Es war von Anfang an als reines Elitegymnasium gedacht, denn zur gleichen Zeit hat man an der Fachoberschule die 13. Klasse für die allgemeine Hochschulreife eingerichtet. Das ist doch super. Für viele Kinder, die am Gymnasium scheitern, ist das vielleicht genau der richtige Weg. Aber warum ist die Politik nicht mal ehrlich und sagt: "Ihr könnt alle nach wie vor in 13 Jahren euer Abitur machen, aber es gibt für die Elite das achtstufige Gymnasium?" Genau so hat man es geplant, aber man bekennt sich nicht dazu. Anstatt das G8 als Angebotsschule anzubieten, hat man es als Regelschule angeboten und die nötigen Vorbereitungen dafür nicht getroffen.

SZ : Stichwort Mensen?

Hesse: Genau. Für teuerstes Geld gebaut und heute sind sie nicht ausgelastet. Das musste alles aus dem Boden gestampft werden, und die Kommunen sind hier die Leidtragenden. Der Staat schafft an, die Kommune muss zahlen, und wir als Betroffene baden es aus.

SZ: Sie meinen die chronische Raumnot an den Gymnasien?

Hesse: Wir unterrichten in Räumen, die für 20 Leute gebaut wurden, heute sitzen da mindestens 30 Schüler. Es gibt kaum Aufenthaltsräume. Wer nicht in der Mensa isst, isst im Treppenhaus. Diese Situation wird entschuldigt mit dem Argument, früher nach dem Krieg habe es Klassen mit 60, 70 Kindern unterschiedlicher Altersstufen gegeben - das ist doch keine Erklärung für etwas, was nicht ist. Die Kinder sind heute mehr in der Schule als zu Hause. Sie brauchen mehr Platz.

Eltern sind nicht mehr präsent

SZ: Trotz aller Defizite ist der Run aufs Gymnasium ungebrochen. Die Übertrittsquote beträgt inzwischen annähernd 40 Prozent. Warum ist das so?

Hesse: Eltern wollen ihrem Kind eine Schulbildung geben, die ihnen alles ermöglicht. Mit Hauptschulabschluss kann man kaum noch einen Arbeitsplatz bekommen, folglich muss es um jeden Preis das Gymnasium sein. Und es werden dort Kinder eingeschult, die einfach nicht geeignet sind. Sie kommen mit Gefälligkeitsnoten oder über den Probeunterricht, und der Großteil scheidet in der Mittelstufe aus, abgesehen von Ausnahmen. Ich habe immer wieder festgestellt, die Empfehlungen der Grundschulen stimmen zu 95 Prozent. Aber es gibt immer mehr Eltern, die ihre Kinder auf das Gymnasium zwingen.

SZ: Wie hat sich der Lehreralltag in den letzten 30 Jahren verändert?

Hesse: Die Bürokratie hat eindeutig zugenommen. Es gibt eine Hausordnung, eine Verfahrensordnung, eine Gymnasiale Schulordnung (GSO) - Ordnungen noch und nöcher. Ich will eine Ordnung gar nicht in Abrede stellen, aber wir machen das auf Tausenden von Seiten und mit Tausenden von Vorschriften. Das schränkt das pädagogische Wirken erheblich ein.

SZ: Die Vorgaben des Ministeriums, das gilt auch für den Lehrplan, sind als Rahmen gedacht, die dem Lehrer bei der Umsetzung Luft lassen. Können Lehrer mit diesen Freiräumen nicht umgehen?

Hesse: Lehrer wollen Freiräume, aber sie schöpfen sie nicht aus. Sie haben auch ständig Angst, gegen irgendeine Ordnung zu verstoßen, was dann in die nächste Beurteilung einfließen könnte. In der Praxis wird daher sofort die GSO herangezogen, wenn es ein Problem gibt. Wenn es nicht gelöst werden kann, geht es auf die nächst höheren Dienstebenen - das dauert ewig, ist ein Riesenaufwand und kostet Zeit. Diese Zeit fehlt dem Lehrer.

SZ: Ist das linientreue Verhalten nicht verständlich, wenn ständig mit einer schlechten Beurteilung gedroht wird?

Hesse: Ich sage: Wenn ein Lehrer nicht nach höheren Weihen strebt, kann ihm die Beurteilung weitgehend egal sein. Aber es ist so, dass der Lehrer über diese ganzen Verordnungen in das System hineingepresst wird. Wir bräuchten in der Lehrerschaft mehr Leute, die sich auch mal über Verordnungen hinwegsetzen, wenn es der Sache dient und sinnvoll ist.

SZ: Haben die Lehrer Angst?

Hesse: Viele Lehrer hatten in den vergangenen Jahren das Problem, möglicherweise keine Anstellung zu bekommen. Das läuft unterschwellig immer mit. Sie wussten, von 15 Referendaren werden ein oder zwei übernommen. Damals sind Leute mit einem Notendurchschnitt von 1,7 rausgeflogen, heute nimmt man auch solche mit 3,4.

SZ: Eltern und Lehrer sind heute anders. Die Schüler auch?

Hesse: Das Schülerverhalten hat sich gravierend verändert. Sie sind nicht mehr bereit, Pflichten zu übernehmen, sie sind unzuverlässiger, unpünktlicher und, sagen wir es ruhig mal, fauler. Sie glauben, mit Minimalaufwand ist alles machbar. Das gab es auch früher, aber nicht in der breiten Masse.

SZ: Woher kommt das?

Hesse: Das ist ein gesellschaftliches Problem. Die Familie, die Schlüsselfertigkeiten vermittelt, gibt es nicht mehr. Eltern sind nicht mehr präsent. Sie setzen die Kinder in ihr Kinderzimmer und schalten die Medien ein. Sie sind Manager ihrer Kinder, fahren sie überall hin, organisieren ihre Freizeit, aber sie beschäftigen sich nicht mehr mit ihnen. Das hängt auch mit dem Werteverfall in den Familien, aber auch in der Gesellschaft zusammen.

SZ: Es hakt also an allen Ecken und Enden. Wenn Sie Kultusminister wären, wo würden Sie als Erstes ansetzen?

Hesse: Bei der Lehrerausbildung.

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