Lebenswerk:Der Erfinder von Dr. Sommer dichtet heute Schlager

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Gert Braun arbeitete einst in der Chefredaktion von Bravo, Quick und Neue Revue. Heute schreibt er im Seniorenheim Schlagertexte. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Gerd Braun hat sich für "Bravo" Dr. Sommer und die Foto-Lovestory ausgedacht. In den 60ern landete das Heft deshalb fast auf dem Index.

Von Gerhard Fischer, München

Ein besorgtes Mädchen schrieb vor vielen Jahren an Dr. Sommer. "Ich bin sehr verliebt in meinen Freund", hieß es in dem Brief, "aber immer wenn wir Tanzen gehen, spüre ich einen harten Gegenstand in seiner Hose; es fühlt sich an wie ein Flaschenhals - glauben Sie, dass er Alkoholiker ist?"

Gert Braun lacht nicht laut; aber in der Art, wie er lächelt, merkt man ihm die Freude an, dass er diese Geschichte erzählen kann. Braun war früher Chefredakteur von Bravo, und es ist ihm zu verdanken, dass es dort den berühmten Dr. Sommer gibt. Kürzlich ist das Jugendmagazin 60 Jahre alt geworden, und Dr. Sommer beantwortet immer noch Fragen zu Liebe und Lust, Petting und Necking.

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Gert Braun lebt in einem Seniorenwohnheim in der Au. Er holt seinen Gast im Foyer ab. Der 91-Jährige, dichtes, weißes, zurückgekämmtes Haar und immer noch gut aussehend, bewegt sich beachtlich. "Vital" ist die Vokabel, die einem einfällt. Er geht voran zum Aufzug und dann in sein Zimmer im ersten Stock. Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Foto-Album. Braun setzt sich auf ein Sofa.

Vor einem Jahr, als er 90 wurde, hat er sein Leben in Stichworten aufgeschrieben und das Papier Verwandten und Freunden gegeben. "Es reicht von Hitlers Vernichtungsdiktatur bis zu meinem Rentnerdasein in einer bereits dekadenten Demokratie", heißt es darin. Es ist ein langes Leben mit vielen Erlebnissen, schönen und schlimmen; was soll man da rausgreifen, bevor man zur Bravo-Zeit kommt? Den Krieg? Die Geschichte mit Thomas Mann?

Brauns Bruder Walter fiel 1941 bei Lemberg, sein Vater starb 1943 an Krebs, Gert Braun musste an die Ostfront, floh vor den Russen, musste Wasser aus Pfützen und Milch von ausgerissenen Kühen trinken, erfuhr 1945, dass der Bruder Heribert ebenfalls getötet worden ist. Das schmerzte sehr. Und das prägte. "Es begann für mich eine Zeit der absoluten Leere und Einsamkeit", heißt es in seinem Papier. Diese Leere wird er später immer wieder spüren. Obwohl sein Leben voll mit Geschichten war.

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1955 war Gert Braun, der Tbc hatte, in Zürich im gleichen Krankenhaus wie Thomas Mann, bloß ein paar Zimmer von ihm entfernt. Der 80-jährige Schriftsteller lag im Sterben. Eine Nachtschwester erzählte Braun, dass Mann am Ende "nur noch Musik von Gustav Mahler hören wollte".

Aber auch das Leben von Gert Braun, damals erst 30 Jahre alt, war in diesen Tagen gefährdet. Er erzählt davon, als wäre es ein Dokumentarfilm, denn er wählt den Präsens: "1. August 1955, es ist der Schweizer Nationalfeiertag: Ich stehe am Abend auf der Dachterrasse vom Zürcher Kantonsspital und rauche die letzte Zigarette vor meiner Lungenoperation."

Am nächsten Tag wurde Braun operiert. "Es sollte ein Segment von meinem linken Lungenflügel herausgenommen werden", sagt er, "aber der Oberarzt schneidet aus Versehen den ganzen Lungenflügel heraus." Nach der OP hatte Braun noch eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jahren.

Am 12. August 1955 starb Thomas Mann. "Als ich nach meiner OP zum ersten Mal am Fenster zum Hof saß", erzählt Braun, "sah ich, wie man ihn hinaustrug - hinter dem Sarg: seine Frau Katia, sein Sohn Golo, seine Tochter Erika."

Braun selbst erholte sich. Er überstand zehn Jahre, zwölf Jahre, 20 Jahre und mehr. Er lächelt auf seinem Sofa im Seniorenheim. "Es sind bisher 61 geworden", sagt er. "Ich habe ein zweites Leben bekommen und deshalb würde ich einen Artikel über mich so überschreiben: Mein Leben in der Nachspielzeit." Er sagt es zweimal: Mein Leben in der Nachspielzeit. Es ist ihm wichtig. Und man merkt, dass er sich vor dem Besuch Gedanken über diese Formulierung gemacht hat.

Sein Leben in der Nachspielzeit spielt sich vor allem bei Zeitschriften ab. "Als der Verleger Helmut Kindler 1961 Mitarbeiter für ein privates Fernsehen sucht", sagt Braun und macht eine Kunstpause. Natürlich wartet er auf eine erstaunte Zwischenfrage, die so aussehen muss: 1961, damals gab es schon Pläne für privates Fernsehen? "Ja", sagt Braun, "aber sie wurden nicht umgesetzt - es wurde keine Fernsehlizenz erteilt." Kindler gab Braun stattdessen einen Job als Textredakteur bei der Bravo. "Das war bis dahin für mich die Jugend-Illustrierte, die meine Verlobte immer versteckte, bevor ich zu Besuch kam", sagt Braun.

Er rückt auf dem Sofa ein Stück nach vorne und blickt auf das aufgeschlagene Foto-Album. Die Layouter von Quick, wo er später Chefredakteur wurde, hatten es ihm zum 60. Geburtstag geschenkt. Es zeigt Gert Braun auf den Stationen seiner Karriere. Braun blickt auf die Seite, auf der ein Foto vom Beginn seiner Bravo-Zeit zu sehen ist. Bravo war Anfang der Sechzigerjahre in einem Keller in der Nigerstraße hinter dem Prinzregententheater untergebracht - und gerade auf dem Weg von einer Film- und Fernsehzeitschrift zu einem Jugendmagazin.

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Neben Braun stehen sieben Leute, er kennt ihre Namen noch, und auch die Geschichten dazu. "Das ist Liselotte Krakauer, die Chefredakteurin", sagt er und deutet auf eine elegante Frau. "Und das ist Karl-Heinz Mühlenbach, der hat nebenher noch für den Kicker geschrieben." Sein Blick wandert weiter. "Das ist Erich Pecher, der hat die Humorseite gefüllt und nebenher für Kabarettisten Monologe verfasst." Pecher sei die Steigerung von Pech - das hätten sie immer gesagt. Ein paar Sekunden blickt er ins Bild hinein, als würde er die Zeit zurückdrehen wollen. "Alle schon tot", sagt er schließlich. "Ich bin der Einzige, der von dieser Urgründung noch erzählen kann."

Braun verließ die Bravo 1965, ging zur Revue und 1966 als stellvertretender Chefredakteur zur Neuen Revue. Oswalt Kolle war zu dieser Zeit Film-Redakteur bei der Quick und schrieb über "Dein Kind, das unbekannte Wesen". Braun fragte ihn: "Warum schreibst du nicht für uns über deine Frau, das unbekannte Wesen?" Braun schaut vom Album auf. "Ich sagte zu Kolle: Das Interessanteste der Frau ist doch ihre natürliche Sexualität - und darüber wissen wir alle viel zu wenig." Ein bemerkenswerter Satz, in mehrfacher Hinsicht.

Kolle sagte zu, holte sich einen Sexualwissenschaftler als Berater und schrieb das Ganze als Serie für die Neue Revue. Später wurde aus "Deine Frau, das unbekannte Wesen" ein Buch und ein Film. Wer heute den Namen Oswalt Kolle hört, denkt an diesen Titel.

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"Der Erfolg war epochal", sagt Braun. Er meint den Erfolg, den die Neue Revue mit der Kolle-Serie hatte. Die Auflage stieg auf 1,8 Millionen, was an Kolle lag, aber auch dem Fortsetzungsroman "Zum Nachtisch wilde Früchte", in dem Heinz G. Konsalik einen Politiker seinen Gästen LSD ins Dessert mischen lässt. Sex und Drogen - das waren wohl gern gelesene Tabuthemen im prüden Wirtschaftswunderland BRD.

Apropos Wirtschaftswunderland. Es bot Menschen wie Braun, die etwas werden wollten, sehr viele Möglichkeiten. Aber dieses Land war auch voll von Menschen, die verwundet waren: Gert Braun hatte seine Brüder im Krieg verloren. Das steckte er nicht so einfach weg.

1969 ging Braun zurück zur Bravo und wurde dort stellvertretender Chefredakteur. Er erzählt durchaus stolz davon, dass er 1969 den berühmten Dr. Sommer erschaffen hat. "Dr. Martin Goldstein hat damals in Düsseldorf Sexualaufklärung im Auftrag der evangelischen Kirche gemacht", sagt Braun, "ich habe ihn gefragt, ob er das auch für die Bravo machen will." Dr. Martin Goldstein wurde Dr. Jochen Sommer; oder Dr. Alexander Korff, auch unter diesem Namen beantwortete Goldstein Leserfragen. Zum Beispiel, ob man vom Küssen schwanger werden könne.

Einmal schrieb ein Junge, er habe ein Problem: Er müsse abends in seinem Bett immer onanieren. Dr. Sommer antwortete: "Ich verstehe dein Problem - aber damit bist du nicht alleine." Öffentlich übers Onanieren zu reden - das war zu viel in der damaligen Zeit: Es wurde ein sogenannter Indizierungsantrag gegen die Bravo gestellt. "Von Eltern oder Lehrern, ich weiß es nicht mehr", sagt Braun. Ein Indizierungsantrag befasst sich damit, ob etwas jugendgefährdend ist. "Bei drei Indizierungsanträgen, die durchgehen, hätten wir Bravo einstellen müssen", erzählt Braun. Die Zeitschrift konnte das in diesem Fall abbiegen. Gert Braun war dafür sogar nach Bonn gefahren, zur Familienministerin Käte Strobel.

1972 wurde Braun Bravo-Chefredakteur. Er sagt, dies seien seine schönsten Lebensjahre gewesen. "Ich habe mit Bravo meine Jugend nachgeholt und damit Erfolg gehabt." Er sei der "väterliche Freund" der jungen Leserinnen und Leser gewesen, habe viele Mädchen und Junge getroffen und aufgeschrieben, was sie bewegte. Sein Moto war: "Je näher man rangeht, umso erfolgreicher ist es."

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Mit seiner Frau Nora, mit der er seit 1959 verheiratet ist, war er in dieser Zeit einmal in Italien. Nora, die Italienisch spricht, bekam dort ein Magazin in die Hände, in der Liebesgeschichten in Bildern und mit Sprechblasen abgebildet waren. "Warum macht Ihr das nicht?", fragte sie. Gefragt, getan. Braun nannte es die Foto-Lovestory. Die Auflage stieg auf 1,6 Millionen. Auch die Foto-Lovestory gibt es heute noch.

Gert Braun blättert noch einmal in dem Album. Man sieht, dass er ein großer, stattlicher Herr gewesen ist. Und er hat bekannte Männer seiner Zeit getroffen: Hans Rosenthal, Gerd Müller, Rex Gildo, Curd Jürgens. Braun war einmal mittendrin.

Mit 61 ging Braun in Rente, nachdem er noch einige gute und zwei ja: unerquickliche Jahre bei Quick verbracht hatte. Es gab Streit über die Auflagenzahlen, die erst stiegen, dann fielen, und wochenlange Druckerstreiks, Billigblätter wie Die Aktuelle drängten auf den Markt - Braun ging es schlecht, er kündigte 1986.

Er schrieb nun bayerische Lustspiele, eines hieß "Schweinsbraten mit Braut". Braun wirkt nicht wie der Autor von Lustspielen - auf den Fotos, die ihn als dunkelhaarigen Mann in den besten Jahren zeigen, sieht er eher aus wie ein Talkshow-Moderator. Aber er lässt sich nicht darauf ein, das mit den Lustspielen zu bewerten oder zu hinterfragen. "Es hat mir Spaß gemacht", sagt er. Momentan schreibt er Schlagertexte. Weil es ihm Spaß macht. Braun holt ein Papier vom Schreibtisch und setzt sich zurück aufs Sofa. Er trägt den Schlagertext vor, er heißt "Ein Tango für die Ewigkeit". Der Refrain geht so: "Heiß und cool ist eine Tangonacht, dein Rhythmus hat mich schwach gemacht."

Jetzt sucht er Produzenten für seine Schlagertexte. Er hat ein paar angefragt, auch Ralph Siegel, mit dem er früher mal Silvester gefeiert hat. Siegel hat noch nicht zurückgerufen.

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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