Nationalsozialismus:Die Euthanasie-Verbrechen von Haar

Nationalsozialismus: Im heutigen Isar-Amper-Klinikum in Haar wurden während des Zweiten Weltkrieges schwere Gräueltaten an den Patienten begangen.

Im heutigen Isar-Amper-Klinikum in Haar wurden während des Zweiten Weltkrieges schwere Gräueltaten an den Patienten begangen.

(Foto: Claus Schunk)

Die Patienten seien abgemagert gewesen wie KZ-Häftlinge, berichtet ein Augenzeuge. Neue Recherchen zeigen auch, dass deutlich mehr Menschen in der Heil- und Pflegeanstalt getötet wurden als bislang bekannt.

Von Bernhard Lohr, Haar

Es ist ein Tag im Spätherbst 1946, als morgens um 7 Uhr Uniformierte die Bewohner der Direktorenvilla in Haar-Eglfing aufschrecken. Sie haben ein Entlassungsschreiben samt Räumungsbefehl dabei. Ein Polizist postiert sich an der Tür zum Dienstzimmer von Gerhard Schmidt. Der Zugang zu seinen Unterlagen wird ihm sofort verwehrt.

Der elfjährige Sohn des damaligen kommissarischen Leiters der Heil- und Pflegeanstalt verfolgt das Geschehen mit eigenen Augen. Was er sah, daran kann sich der heute 82-jährige Peter Schmidt noch gut erinnern. Und daran, wie nach dem Krieg die begonnene Aufklärung der Euthanasie-Verbrechen rasch wieder unterbunden wurde.

Der Besuch des Sohnes des von den US-Amerikanern eingesetzten Direktors war für das Isar-Amper-Klinikum ein Ereignis von symbolischer Bedeutung. Die handstreichartige Abberufung Schmidts kam einer Zäsur gleich. Sein Name wurde in der Folge verschwiegen. Über die Euthanasie-Verbrechen wurde über Jahrzehnte kaum geredet, was sich dank mutiger Vorreiter in den Achtziger- und Neunzigerjahren änderte.

Nun macht man sich unter dem neuen Ärztlichen Direktor Peter Brieger an die Aufarbeitung. Nach neuen Recherchen des NS-Dokumentationszentrums wurden in Haar-Eglfing bis zu 2000 Psychiatrie-Patienten umgebracht, weitaus mehr als lange gedacht. Bisher ging man von mehr als 700 Toten in den Hungerhäusern und in der Kinderfachabteilung aus. Mehr als 2100 Patienten wurden außerdem von Haar-Eglfing aus in Tötungsanstalten gebracht.

Essensausgabe mit vorgehaltender Maschinenpistole

Peter Schmidt schilderte auf Einladung Briegers vor 150 Beschäftigten im Kleinen Theater, wie sein Vater als unbelasteter, von außen installierter Direktor von Sommer 1945 bis Herbst 1946 begann, das Grauen aufzudecken, dessen Ausmaß bis heute kaum bekannt ist. Schmidt beschrieb, wie abgemagert die Patienten gewesen seien. Sie hätten ihn an die Bewohner des KZs Dachau erinnert, deren Bilder er im Kopf gehabt habe, weil er den von den US-Soldaten gedrehten Film kurz nach der Befreiung gesehen habe.

Er erzählte, wie er selbst den Vater begleitete, als der eine Krankenstation besuchte. Er und sein Vater seien mit einem US-Militärjeep dort hin gebracht worden. Ob es Gabersee oder Schönbrunn gewesen sei, wisse er nicht mehr genau. Dort habe sein Vater mit vorgehaltenen Maschinenpistolen beim Personal die Essensausgabe erzwingen lassen. Mancher hatte das alte System noch verinnerlicht, sagte Schmidt. "Das ging nach Kriegsende offensichtlich mancherorts so weiter, ganz ohne Befehlsnotstand."

Bei Ärzten, Pflegern und Verwaltungsangestellten, die überwiegend nach Kriegsende weiterarbeiteten, kostete dem Direktor Schmidt solch Vorgehen offenbar jegliche Sympathie. Der Aufklärer Schmidt sichtete nach Schilderung seines Sohnes Unterlagen, befragte Patienten, sammelte Material, wobei wohl nicht wenige befürchteten, dies könnte vor Gericht gegen sie verwendet werden. Dass er belastetes Personal entließ und neue Fachkräfte ins Haus holte, wurde am Ende gegen ihn ausgelegt.

Nationalsozialismus: Der heute 82-jährige Peter Schmidt ist der Sohn des einstigen kommissarischen Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Gerhard Schmidt.

Der heute 82-jährige Peter Schmidt ist der Sohn des einstigen kommissarischen Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, Gerhard Schmidt.

(Foto: Claus Schunk)

Die Historikerin Sibylle von Tiedemann hat in Schmidts Personalakten nachvollzogen, wie es zu der Entlassung kam, die in der überfallartigen Polizeiaktion mündete. In ihren Augen war es eine gezielte Mobbingaktion der alten Seilschaften. Schließlich hieß es, Schmidt sei der Aufgabe nicht gewachsen. Das Bayerische Innenministerium setzte ihn ab, kaum dass die US-Armee die Kontrolle abgegeben hatte.

Große Geste für den verfemten Aufklärer

In der Folge wurde Schmidt regelrecht verleugnet. Selbst sein Name fehlt in dem Jahresbuch, das bezeichnenderweise die Jahre 1944 bis 1946 zusammenfasst. Er selbst betrat nach der Abberufung nie mehr das Klinikareal. Sein Sohn Peter sprach von tiefer persönlicher Kränkung. Einige Klinikmitarbeiter zeigten sich bewegt. Der frühere evangelische Klinikpfarrer Klaus Rückert berichtete, wie schwer es für ihn bis in die Achtzigerjahre hinein gewesen sei, in der Klinik das Thema Euthanasie anzusprechen.

Der Ärztliche Direktor Brieger nutzte die Gelegenheit, den verfemten Aufklärer Gerhard Schmidt mit einer großen Geste zu würdigen. Er rief auf, einen neuen Geist im Isar-Amper-Klinikum einziehen zu lassen: "Die jungen Ärzte müssen wissen, dass hier ein Gerhard Schmidt gewirkt hat, sie müssen stolz darauf sein." An die anwesenden Mitglieder der Familie Schmidt gerichtet sagte er: "Wir müssen uns schämen dafür, was hier geschehen ist, und uns dafür entschuldigen." Für die Klinik sei es eine Verpflichtung, sich mit den Euthanasie-Verbrechen und der bisher verdrängten persönlichen Schuld von Mitarbeitern auseinanderzusetzen. "Wir werden uns dem stellen, das verspreche ich Euch."

Den Klinikangestellten legte er die Lektüre des Buches nahe, in dem Gerhard Schmidt die Erkenntnisse aus der Haarer Zeit verarbeitete. Eine Pflichtlektüre, wie er sagte. Nachdem ein erstes Manuskript auf mysteriöse Weise verschwunden war und sich lange kein Verlag fand, erschien erst im Jahr 1965 das Buch "Selektion in der Heilanstalt, 1939-1945", das heute als Standardwerk gilt

Das Isar-Amper-Klinikum und den Bezirk als Träger ermunterte der Zeitzeuge, auf dem Gelände, das zum Großteil Privatinvestoren gehört, die dort Wohnungsbau planen, ein deutlich sichtbares Zeichen des Gedenkens zu schaffen, ähnlich dem Otto-Wagner-Spital in Wien, wo ein Stelenfeld an die einzelnen Opfer erinnert.

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